Deutsch-türkische Autorin erhält Kleist-Preis
Was an Emine Sevgi Özdamar fasziniert, ist, dass sie so konsequent inkonsequent ist. Es scheint, sie ließe sich mit Leichtigkeit von einem einmal eingeschlagenen Weg abbringen, um dann mit großer Intensität etwas ganz anderes zu machen – und das stets mit großem Erfolg.
So kommt Özdamar in den 1960er Jahren als Gastarbeiterin nach West-Berlin, lässt sich dann in Istanbul in der Schauspielkunst ausbilden, um letztendlich in Deutschland Schriftstellerin zu werden. In den 1970er Jahren wohnt die begabte Grenzgängerin in Westberlin, während sie in Ost-Berlin Theater spielt.
Und obwohl sie aus der Türkei stammt, schreibt sie auf Deutsch. Eine Sprache, die sie erst als Erwachsene lernt und bis heute nicht fehlerfrei spricht. Özdamar ist vielleicht einfach zu klug, um sich festzulegen.
Romane für die Großmutter
Für Geschichten und Gedichte begeistert sich die 1946 geborene Özdamar schon als Kind. Sie liest ihrer analphabetischen Großmutter Romane vor. Madame Bovary und Robinson Crusoe.
"Während ich ihr Robinson Crusoe vorlas, fragte Großmutter immer: 'Wie hat seine Familie das ausgehalten? Was hat seine Frau gemacht? Was haben seine Kinder gegessen?' Sie musste immer an die Familie von Robinson Crusoe denken und machte sich große Sorgen. Also beruhigte ich sie und dachte mir aus, was seine Kinder gegessen haben: Reis, mit Lamm und Mais und Kastanien."
Der Einstieg in das professionelle Schreiben kommt durch einen Brief, den sie während eines Engagements am Bochumer Theater erhält. "Der Brief berührte mich, weil der Autor ein Verlierer war. Ich wollte ein Theaterstück machen und ihm zeigen, dass sein Leben ein Roman ist. Ich wollte ihm eine Freude machen."
Es entsteht das Theaterstück "Karagöz in Alemania", die Erzählung einer verrückten Reise eines Bauern und seines sprechenden Esels nach Deutschland. Ab da schreibt sie. Theaterstücke, Erzählungen und Romane. Und Özdamar wird mit Preisen überhäuft.
Staunenswert ist dabei auch, mit welcher Hingabe sie sich die deutsche Sprache aneignet. Obwohl sie nicht gerne zu politischen Ereignissen Stellung nimmt, hat bei dieser Entscheidung, der Wahl ihrer Künstlersprache, Politik eine entscheidende Rolle gespielt:
"Die Zunge hat keine Knochen"
1971 putscht sich das Militär in der Türkei zum zweiten Mal an die Macht. Es folgen Massenverhaftungen und Zensur. In Deutschland hingegen, wohin die damals 30-Jährige sich 1976 aufmacht, um an der Ostberliner Volksbühne zu spielen, spürt Özdamar noch den Geist der Freiheit, wie sie in der Rede anlässlich ihrer Ehrung darlegte:
"Bei einem Putsch steht alles still. Die Baustellen, der Export und Import, die Menschenrechte - auch die Karriere steht still. Auch die Liebe kann still stehen. Ein großes Loch tut sich auf. Man sagt, man verliert in einem fremden Land die Muttersprache.
"Aber in solchen Jahren kann man die Muttersprache auch im eigenen Land verlieren, die Wörter verstecken, vor ihnen Angst bekommen. Ich wurde damals müde in meiner Muttersprache. Wenn die Zeit in einem Land in die Nacht eintritt, suchen sogar die Steine eine neue Sprache.
"Dort in Istanbul, in dem tiefen Loch, haben die Wörter Brechts mir geholfen: Gott sei Dank geht alles schnell vorüber, sogar die Liebe und die Traurigkeit. Die Zunge hat keine Knochen. Ich drehte sie ins Deutsche und plötzlich war ich glücklich."
Ein anderer Rhythmus
Was ist ihr Erfolgsrezept? Die türkische Erzähltradition, voller Humor und Tragik, verbindet sie mit europäischer Literaturform. "Ich hatte das Gefühl, dass meine Kindheit sehr poetisch ist. Wir hatten Menschen um uns herum, Katzen, einen ganz anderen Rhythmus, langsamer, friedlich ...
"Ich hatte Sehnsucht nach dieser Zeit. Und ich dachte, ich muss diese wunderbaren Menschen, diese verrückten Frauen, die mit Trommeln durch die Straßen ziehen, ich muss diese Menschen, die jetzt tot sind, wieder ins Gedächtnis rufen, ich muss sie wieder finden und den anderen schenken. Das war mein großes Bedürfnis."
"Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der andere ging ich raus" heißt eine ihrer bekanntesten Erzählungen. Der Titel ist programmatisch: Der beständige Wandel, das überschreiten von Grenzen, das sich ständig mit Neuem konfrontiert sehen.
Immer wieder muss sich das Individuum seiner Identität neu versichern. Und blickt melancholisch zurück in die Vergangenheit: Wo sind die Toten, die mich gestalteten, und wo das Wissen, das sie hervorgebracht haben?
"Wenn ich manchmal im Flugzeug im Himmel sitze, denke ich, wie viele Wörter unter der Erde liegen, die die Toten, die ich liebte, mit sich genommen haben. Ich habe Sehnsucht nach ihren Wörtern."
Mit Preisen überhäuft
Für "Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus" erhält Özdamar 1991 den Ingeborg-Bachmann-Preis, 1993 den Walter-Hasenclever-Preis, 1995 das New York-Stipendium des Deutschen Literaturfonds und 1994 den "International Book of the Year" des London Times Literary Supplement.
Ihr zweiter Roman "Die Brücke vom Goldenen Horn" erscheint 1998 und bringt ihr 1999 den Adelbert von Chamisso-Preis und den Preis der LiteraTour Nord.
Im letzten Jahr erschien ihr dritter Roman, "Seltsame Sterne starren zur Erde", in dem sie ihr Leben in Berlin verarbeitet hat.
Lennart Lehmann
© Qantara.de 2004