Hilflose Hilfsarchitektur
Vor fünfunddreißig Jahren, im Jahr 1970, versprach die reiche Welt in der UN-Resolution 2626, die öffentliche Entwicklungshilfe auf einen Anteil von 0,7 % des Bruttoinlandprodukts zu heben. Fünfundzwanzig Jahre später haben 21 Staaten der Europäischen Union dieses Ziel nicht erreicht, auch die Bundesrepublik Deutschland mit derzeit 0,28 % liegt weit hinten.
Beim Weltwirtschaftsforum in Davos 2003 verkündete der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder zwar, dass Deutschland mittelfristig den Anteil von 0,7% zahlen würde. Mit der gegenwärtigen Tendenz wird das aber erst im Jahre 2087 der Fall sein.
Vor fünf Jahren setzte UN-Generalsekretär Kofi Annan die Expertengruppe "Millennium Project" ein, die analysieren sollte, wie und ob die so genannten Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen zu erreichen wären. Nun stellt das Projektsekretariat fest, dass dafür unter anderem die derzeitig bereitgestellten Gelder an öffentlicher Hilfe von 68 auf 135 Milliarden US-Dollar verdoppelt werden müssten.
Gemessen an den Kräfteverhältnissen in der Welt, ist die Durchsetzung dieser Forderung unrealistisch. Im jüngsten Bericht der UN-Experten "Investing in Development" vom Januar 2005 wird zwar einiges an praktischen, schnell umsetzbaren Ideen lanciert. Die vorgeschlagenen Maßnahmen wie kostenlose Schulspeisungen, die Bereitstellung von Generatoren für Krankenhäuser und das Verteilen von Moskitonetzen lesen sich aber wie die Bestellliste einer Missionsstation und erwecken nicht den Eindruck, als ginge es um die Reduzierung der weltweiten Armut.
Eine weitere Studie "EU Heroes and Villains", die im Februar 2005 von Oxfam veröffentlicht wurde, lässt ebenfalls das Erreichen der Millenniumsziele in weite Ferne rücken. Die Studie stellt fest, dass viele Länder der Europäischen Union besonders in die ärmsten Länder, die so genannten Least developed countries, prozentual geringe Mittel fließen lassen: Finnland liegt bei 24%, Österreich bei 15% und Griechenland kommt auf schlappe 6%.
Nur die Niederlande erreichen Vorgabe
Eigentlich hätten gerade diese Länder finanzielle Hilfe am nötigsten, um die Millenniumsziele zu erreichen. Weiterhin hatte man auf dem Weltgipfel für soziale Entwicklung (World Summit for Social Development) 1995 beschlossen, dass sowohl Geber- als auch Entwicklungsländer 20% für soziale Programme ausgeben müssen. Außer den Niederlanden mit rund 19 % erreicht kein Staat der Europäischen Union diese Vorgabe. Deutschland liegt mit rund 7% in der untersten Kategorie.
Ein weiterer wunder Punkt in den Finanzbeziehungen zwischen Geber- und Nehmerländern ist, dass im Schnitt rund 38% der Entwicklungshilfe als gebundene Hilfe ausgezahlt werden. Im Klartext heißt dies, dass der Empfängerstaat Waren, Dienstleistungen aus dem Geberstaat – unter Umständen zu höheren Preisen – annehmen muss. Eigentlich haben die Staaten der Europäischen Union 2001 die Aufhebung dieser Kopplung beschlossen.
Auch auf dem Gebiet des bilateralen Schuldenerlasses ist nicht viel Bahnbrechendes zu berichten. Erneut gibt es auch hier – wie bei anderen Sachgebieten – Beschlüsse der Europäischen Union, diesmal aus dem Jahr 2002, speziell den stark verschuldeten Ländern eine Entwicklungsoption zu ermöglichen, damit sie vorhandene Gelder investieren und nicht zur Zinstilgung von Schulden verbrauchen.
Zwar haben viele europäische Staaten den betroffenen Ländern einen Schuldenerlass in Aussicht gestellt oder umgesetzt. Dennoch klafft eine große Lücke zwischen Beschlüssen und Praxis. Zum Beispiel liegt das Gesamtvolumen der zu erlassenden Schulden in Deutschland bei rund 6 Milliarden Euro, aber nur 2 Milliarden Euro sind bisher tatsächlich abgewickelt worden.
Unüberschaubarer Aktionismus
Das internationale Schuldenmanagement ist ein Konstrukt, das von Ungerechtigkeit und Intransparenz geprägt ist. Die Gläubiger sind gleichzeitig die Richter in eigener Sache. Ein faires Schiedsgericht – und damit ein vernünftiges Insolvenzverfahren – wird der verschuldeten Zwei-Drittel-Welt verweigert. In zivilisierten Staaten hat jeder Handwerksbetrieb ein Anrecht auf ein solches Verfahren.
Die entwicklungspolitische Szene ist weltweit gekennzeichnet von vielen konkurrierenden Akteuren. Eine Tatsache, die laut einer Oxfam-Studie vom Februar 2005 "Millstone or Milestone" zu massiven Defiziten führt: Rund achtzig "offizielle" Entwicklungsagenturen leisten die jährlich rund 35.000 Transaktionen und neigen zu einem unüberschaubaren Aktionismus; auferlegte Zwangskonditionen für Hilfsleistungen zwingen Hilfsempfänger, Blaupausenmodelle anzunehmen.
Hinzu kommen die Handelsliberalisierungen und die Privatisierung des sozialen Bereichs, die dazu führen, dass die Marginalisierung der Ärmsten der Armen fortschreitet. Die Bürokratie ist nicht einmal im Stande, zugesagte Gelder rechtzeitig zu überweisen. Zwischen Hilfszusagen und tatsächlichen Hilfen klafft eine Lücke von bis zu 26% bei Projekthilfen, und oft werden Gelder mit sechsmonatiger Verspätung ausgezahlt.
Entwicklungshilfe wird nicht unbedingt nach Bedürftigkeit vergeben, sondern Lieblingsländer wie Nicaragua erhalten rund 178 US-Dollar pro Kopf Entwicklungshilfe, vernachlässigte Staaten wie Niger nur 22 US-Dollar pro Kopf. Transparenz scheint ein Fremdwort bei den Geberinstitutionen zu sein; die Geldgeber verhalten sich wie ein Geheimbund und geben weder Informationen über geplante und tatsächliche Geldzuwendungen, über die Wirkung ihrer eigenen Arbeit noch über ihre Ausschreibungsverfahren preis.
Obwohl es sich um öffentliche Gelder handelt. Rund drei Viertel der Entwicklungsagenturen informierten zum Beispiel die sambische Regierung weder über die tatsächliche Mittelvergabe noch über anstehende Mittelabflüsse, eigentlich eine Voraussetzung für eine Regierung, um planen zu können.
Intransparenz und Ineffektivität
Die Konsequenzen und Folgen dieses Verhaltens und dieser Politik der Geldgeber haben unerträgliche Dimensionen für den Süden angenommen. Ghana zum Beispiel bekam mehr als 100 Millionen US-Dollar nicht ausgezahlt, weil es der Auflage der Geldgeber, die kommunale Wasserversorgung zu privatisieren, nicht nachkam. Kambodscha legte einen Plan zur Armutsreduzierung vor, eine Voraussetzung für Umschuldung. Japan vermisste darin Infrastrukturprojekte und zwang Kambodscha, den Plan entsprechend abzuändern. Die viel beschworene Debatte um das Mitspracherecht der Länder wird so verhöhnt.
Die Invasion der Geldgeber – oft zur Durchsetzung ihrer Konditionen – führte im Jahr 2003 dazu, dass Vietnam 400 Delegationen von 20 Entwicklungsagenturen empfangen musste. Die Weltbank überzog Senegal mit 50 offiziellen Projektbesuchen – eine Delegation pro Woche.
Gut ausgebildete Beamte in den jeweiligen Ländern sagen immer wieder: "Wir verbringen unsere Zeit damit, Tausende Berichtseiten zu schreiben, Hunderte Abrechnungsmodalitäten der Geldgeber zu erfüllen, Projekte so zu verbiegen, dass sie in die Formate der Geldgeber passen." Ihrer eigentlichen Aufgabe, bei der Umsetzung des Entwicklungsplanes ihres Landes zu helfen, kommen sie kaum nach. Sie werden zum Laufburschen der Geldgeber degradiert.
Die in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) zusammengeschlossenen Staaten haben seit 2003 das Schlagwort Effektivität auf ihre Fahnen geschrieben. Bis heute ist kein Durchbruch gelungen. Die Hilfsmaschinerie ist zu einem byzantinisch anmutenden Koloss geworden, der sich selbst verwaltet.
Er zeichnet sich dadurch aus, dass er die eigene Arbeit und die eigenen Verfahrensweisen nicht transparent macht. Er verweigert sich einer unabhängigen Evaluierung unter Beteiligung der Zivilgesellschaft. Vom Süden verlangt er just das, was er selbst nicht leistet. Ohne eine Generalüberholung der internationalen Hilfsmaschinerie erreicht die Welt nicht die Millenniumsentwicklungsziele.
Kiflemariam Gebre-wold
© Kiflemariam Gebre-wold
Der Text ist erschienen in der Zeitschrift für KulturAustausch 1/05
Kiflemariam Gebre-wold, geboren in Äthiopien, ist unabhängiger Berater in der Entwicklungszusammenarbeit und lebt in Freiburg.
Qantara.de
UN-Sonderbeauftragte Eveline Herfkens:
"Die Millenniumsziele gehören auf die Straße"
Die entwicklungspolitische Gemeinschaft erklärt 2005 zum Entscheidungsjahr für die Millenniumsziele. Werden dieses Jahr die Weichen nicht richtig gestellt, so die Mahnung, dann verdüstern sich die Aussichten, bis 2015 die Armut zu halbieren. Eveline Herfkens, die UN-Sonderbeauftragte für die Millenniumsziele, erläutert im Gespräch, was jetzt getan werden muss, um den Zielen näher zu kommen, und warum es richtig ist, an ihnen festzuhalten, selbst wenn sie am Ende nicht erreicht werden.