"Die Millenniumsziele gehören auf die Straße"

Die entwicklungspolitische Gemeinschaft erklärt 2005 zum Entscheidungsjahr für die Millenniumsziele. Eveline Herfkens, die UN-Sonderbeauftragte für die Millenniumsziele, erläutert im Gespräch, was getan werden muss, um den Zielen näher zu kommen.

Die entwicklungspolitische Gemeinschaft erklärt 2005 zum Entscheidungsjahr für die Millenniumsziele. Werden dieses Jahr die Weichen nicht richtig gestellt, so die Mahnung, dann verdüstern sich die Aussichten, bis 2015 die Armut zu halbieren. Eveline Herfkens, die UN-Sonderbeauftragte für die Millenniumsziele, erläutert im Gespräch, was jetzt getan werden muss, um den Zielen näher zu kommen, und warum es richtig ist, an ihnen festzuhalten, selbst wenn sie am Ende nicht erreicht werden.

Eveline Herfkens, Foto: World Federation of United Nations Associatons (WFUNA)
Eveline Herfkens: "Man kann ein Land nicht entwickeln , solange die Kreativität der einen Hälfte der Bevölkerung unterdrückt wird."

​​Frau Herfkens, welche Ziele werden erreicht, welche nicht?

Eveline Herfkens: Bei Ziel Nummer eins, die Zahl der in Armut lebenden Menschen zu halbieren, sind wir auf Kurs – aber nur weil China stark ins Gewicht fällt und gute Fortschritte macht. Das Ziel der Armutsreduzierung erreichen wir deshalb quasi automatisch. Aber das ist ja eigentlich nicht Sinn der Sache. Unser Ziel muss sein, in jedem Land Fortschritte zu sehen.

Wenn man die verschiedenen Regionen betrachtet, wird deutlich, dass das östliche Asien, Nordafrika und Lateinamerika die Ziele nahezu aus eigener Kraft erreichen können. In diesen Regionen gibt es große Fortschritte.

Das große Problem ist Afrika südlich der Sahara, das in einer Armutsfalle steckt. Es ist schlichtweg zu arm für die notwendigen Investitionen. Aber selbst in Afrika verstecken sich hinter den Durchschnittszahlen einige Erfolgsgeschichten. Mindestens zehn Länder, darunter Ruanda, Uganda, Mali, Malawi, Mosambik und Tansania, werden das Bildungsziel erreichen, einige davon, wie Mosambik, auch das Armutsziel.

Was steckt hinter dem Erfolg dieser Länder?

Herfkens: Hier klappt der "Global Deal", der vor drei Jahren in Monterrey vereinbart wurde. Danach tragen die armen Länder die Hauptverantwortung für die ersten sieben Ziele, während die Geber auf Ziel Nummer acht verpflichtet sind, also die Förderung von Entwicklungspartnerschaften.

Die erfolgreichen Länder machen eine relativ gute Politik in den relevanten Bereichen. Zugleich war die internationale Gemeinschaft ihnen gegenüber verhältnismäßig großzügig – bei der Entwicklungshilfe, der Unterstützung öffentlicher Haushalte und beim Schuldenerlass.

Es ist sehr viel vom Geld die Rede ...

Herfkens: Ja, manchmal hat das schon etwas Manisches ...

Abgesehen von einer Erhöhung von Entwicklungshilfe: Welche politischen Maßnahmen sind vordringlich, um die problematischen Länder auf Kurs zu bringen?

Herfkens: Das hängt vom Land ab. Wo immer ich mit Menschen in Afrika spreche, wird deutlich, dass das AIDS-Ziel eindeutig höchste Priorität hat. Im Nahen Osten dagegen haben viele Regierungen noch nicht verstanden, dass man ein Land nicht entwickeln kann, solange die Kreativität der einen Hälfte der Bevölkerung unterdrückt wird. Hier stellt sich also die Frage nach der Gleichberechtigung der Frau.

Einige Länder in Ostasien stehen vor großen Umweltproblemen, während in Lateinamerika die Armutsreduzierung sehr wichtig ist. Die Ungleichheit in lateinamerikanischen Gesellschaften ist so groß, dass die ärmsten Gruppen, wie marginalisierte ethnische Gemeinschaften oder arme Bauern, von der allgemeinen Entwicklung schlichtweg abgekoppelt sind.

Welche Rolle kann der private Sektor spielen?

Herfkens: Er kann sehr viel bewirken, aber es gibt keine allgemeingültige Antwort. Bei der Förderung von Bodenschätzen wäre es wichtig, dass Unternehmen sich der "Publish what you pay"-Kampagne anschließen, um zu verhindern, dass dem Volk Einnahmen aus dem Öl-Verkauf vorenthalten werden.

Private Banken wiederum müssen sich bewusst werden, dass arme Leute keinen Zugang zu Krediten haben. Bisher sind Kleinstkredite hauptsächlich eine Angelegenheit zivilgesellschaftlicher Gruppen. Es gibt aber viele kleine und mittlere Unternehmen in den Entwicklungsländern, die dringend Bankkredite brauchen.

Drittens der Handel mit landwirtschaftlichen Produkten: In meiner Funktion als Entwicklungsministerin habe ich mit der größten Supermarktkette in den Niederlanden, Albert Heijn, darüber gesprochen, ob es möglich wäre, Bananen nicht aus dem Süden von Ghana, sondern aus den ärmeren Regionen im Norden zu importieren.

Kurz: Was ein Unternehmen tun kann, hängt davon ab, in welchem Sektor es tätig ist. Eines sollten allerdings alle großen Unternehmen tun: sich für die Verwirklichung der Millenniumsziele und das 0,7-Prozent-Ziel einsetzen und – so wie der Unilever-Vorstandsvorsitzende Niall FitzGerald – erklären, dass landwirtschaftliche Subventionen schädlich sind.

Halten Sie es aus heutiger Sicht für einen Fehler, dass vor fünf Jahren die Millenniumsziele erklärt wurden, ohne gleichzeitig einen detaillierten Umsetzungsplan zu entwerfen und verbindliche Verpflichtungen festzulegen?

Herfkens: Ich denke nicht, dass es ein Fehler war, weil es so etwas wie einen großen, detaillierten Plan nicht geben kann. Die Fragestellungen und Probleme unterscheiden sich von Land zu Land. Wir brauchen keinen globalen Plan, sondern Pläne für jedes einzelne Land.

Das ist das zentrale Ergebnis des Berichts von Jeffrey Sachs: Wir wissen, was im Großen und Ganzen getan werden muss, aber die Details müssen länderspezifisch sein. Wir sollten davon absehen, in den Büros der Vereinten Nationen oder in Berlin Blaupausen für Entwicklung zu erstellen. Das muss vor Ort gemacht werden.

Aber ist das nicht das Problem des Sachs-Berichts? Kritiker sagen, das Papier sei nur ein weiterer hochfliegender Plan für eine bessere Welt ...

Herfkens: Jeffrey Sachs zeigt sehr überzeugend, dass die Millenniumsziele finanzierbar und verwirklichbar sind. Seit ich mich für die Ziele einsetze, bekomme ich zu hören, sie seien weder finanzierbar noch umsetzbar. Jeffrey Sachs und sein Team machen klar, dass das nicht stimmt, wenn die internationale Gemeinschaft ernst nimmt, was sie versprochen hat.

Aber darauf weisen die UN und Sie selbst doch schon seit Jahren hin. Was ist der praktische Nutzen des Sachs-Berichts?

Herfkens: Mit diesem Geschäftsplan können wir vielleicht Leute überzeugen, die bisher skeptisch waren. Genau das ist unsere Hoffnung: Sie lassen sich nicht von mir überzeugen, vielleicht aber von der Autorität dieser Tausenden von Seiten.

Vor den Millenniumszielen gab es andere Vereinbarungen wie die 20:20-Initiative, nach der Geber und Nehmer Mindestbeträge für soziale Grunddienste bereitstellen sollen. Darüber spricht heute niemand mehr ...

Herfkens: Das stimmt nicht. Viele Geber halten sich an die 20:20-Initiative – ebenso wie die erfolgreichen Länder in Subsahara-Afrika, die ich erwähnt habe. Die Initiative ist heute vielleicht nicht mehr in aller Munde, aber sie hat geholfen, einen Schwerpunkt zu setzen.

Die Millenniumsziele sind weitaus ambitionierter als die 20:20-Initiative. Befürchten Sie nicht, dass der UN-Gipfel mehr versprochen hat, als er einhalten kann?

Herfkens: Nein. Die Millenniumsziele unterscheiden sich in zwei Punkten von bisherigen Zielvorgaben der UN. Erstens wurden sie auf der Ebene der Staats- oder Regierungschefs beschlossen.

Frühere Initiativen, beispielsweise in den Bereichen Bildung und Gesundheit, wurden im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation oder der UNESCO von Gesundheits- oder Bildungsministern vereinbart. Wenn diese Minister dann nach Hause kamen, bekamen sie von ihren Finanzministern zu hören: "Klingt gut, aber ich habe damit nichts zu tun, tut mir Leid." Bei den Millenniumszielen können Sie die gesamte Regierung in die Verantwortung nehmen.

Zweitens zeigt eine Studie über Zielvorgaben bei den UN in den letzten dreißig Jahren, dass sich die Bewegung in Richtung der Ziele jedes Mal beschleunigt hat, sobald sie einmal gesetzt waren, auch wenn sie am Ende nicht vollständig erreicht wurden.

Diese Studie macht auch deutlich, dass ein einziger Faktor über das Maß an Erfolg entscheidet: inwieweit die Mobilisierung über die UN-Mitarbeiter und die entwicklungspolitische Gemeinschaft hinausgeht. In dieser Hinsicht haben die Millenniumsziele nach meiner Einschätzung schon jetzt mehr Wirkung gezeigt als jede Initiative zuvor.

Welche Folgen hat die internationale Nothilfe für die Tsunami-Opfer für die längerfristige Entwicklungszusammenarbeit?

Herfkens: Kurzfristig befürchte ich, dass Geberländer ihre Soforthilfe auf Kosten der längerfristigen Entwicklungszusammenarbeit erhöhen. Das würde bedeuten, dass die Armen in Afrika für die Menschen in Asien zahlen. Die Tsunami-Katastrophe zeigt aber, dass die Menschen in den reichen Ländern sehr großzügig sein können, wenn sie mit der Misere konfrontiert werden, in der die andere Hälfte der Weltbevölkerung lebt.

Das Tragische ist, dass die "stillen Tsunamis" wie Armut, Hunger und Krankheit, die jeden Tag töten, keine Schlagzeilen machen. Die Aufgabe einer effektiven Millenniumskampagne ist es daher, auf diese langfristigen Killer aufmerksam zu machen. Der Tsunami zeigt, dass Politiker durchaus danach streben, ihre Betroffenheit zu demonstrieren, wenn zuvor ihre Wähler das getan haben.

Wenn es gelänge, die Großherzigkeit der Menschen angesichts der Tsunami-Katastrophe auf die leisen Killer zu übertragen, dann würde auch das Interesse der Politiker steigen.

Wie lässt sich das erreichen?

Herfkens: Indem man die Mobilisierung über die Entwicklungsgemeinschaft hinaus verstärkt, indem man Seminare nicht nur für die Leute organisiert, die ohnehin immer wieder in ähnlichen Seminaren sitzen. Wir müssen das Thema ins öffentliche Bewusstsein und in die Mainstream-Debatten bringen. Die Millenniumsziele gehören auf die Straße. Das würde etwas bewirken.

Die Fragen stellte Tillmann Elliesen.

© Entwicklung und Zusammenarbeit 3/2005

Eveline Herfkens
ist seit 2002 Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für die Millenniumentwicklungsziele. Davor war sie vier Jahre lang niederländische Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit.

www
Die Milleniumsziele von UNDP (engl.)

Zeitschrift Entwicklung und Zusammenarbeit