Ein deutscher Kriegsdiskurs

Zeitungen zum Krieg in Nahost
Medienberichte über den Nahost-Krieg: Wie sich die Debatte entwickelt, folgt einer Dynamik, die die Forschung auch aus anderen Kriegen kennt. (Foto: privat)

Wie über die Gewalteskalation in Israel und im Gazastreifen gesprochen wird, folgt in vielerlei Hinsicht einer bekannten strukturellen Dynamik von Diskursen in Kriegszeiten.

Essay von Hanna Pfeifer & Irene Weipert-Fenner

Polarisierung in ein Freund-Feind-Schema und das Negieren moralischer Ambivalenz sind typische Muster bei Debatten in Kriegszeiten. Zu dieser Dynamik gehört auch das Rechtfertigungsmuster, wonach die Akte der einen Seite durch vorherige Akte der anderen Seite mehr als gedeckt seien, genauso wie der Zwang der Bedrohungslage, die Reflexion und Distanzierung als unangemessen diskreditiert, die Konstruktion beispielloser Amoralität, die Aushebelung humaner Standards durch Entmenschlichung des Feindes und die Vereindeutigung einer unauflösbar komplexen Lage. 

Die Debatte folgt dieser strukturellen Dynamik und markiert und missbilligt Abweichungen als Verrat und nimmt sie zum Anlass für ein grundsätzliches Misstrauen. Diese Dynamik verengt stark, was sagbar und was analysierbar ist. Die vorstrukturierte Dynamik der Debatte wirkt ansteckend und zieht auch vormals indirekt Beteiligte in das "schwarzweiße“ Diskursgeschehen. 

Dieser Beitrag beleuchtet den deutschen Diskurs über den Krieg Israels im Gazastreifen als Antwort auf den Überfall und das Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten und Militärs am 7. Oktober 2023, die selbst Teil eines langen Konfliktes in der Region sind. Diese Formulierung ist einerseits Ausdruck eines Gebots der besonderen Genauigkeit in den laufenden Debatten und mag von unterschiedlichen Seiten angefochten werden – andererseits ist auch dies bereits eine Manifestation der genannten dominierenden Dynamiken im Diskurs. 

Menschen in Berlin gedenken der Opfer des Terroranschlags in Israel.
Menschen in Berlin gedenken der Opfer des Terroranschlags in Israel. (Foto: Annette Riedl/picture alliance/dpa)

Vieldeutige Parolen

Wir konzentrieren uns im Weiteren auf drei Mechanismen, die für die Debatten über Kriege im Allgemeinen typisch sind. Sie tragen aber eine für den deutschen Diskurs spezifische Signatur, die wiederum besonders prononciert im laufenden Gewaltkonflikt in Israel, den Palästinensergebieten und angrenzenden Regionen zu Tage tritt. 

Dazu gehören eine Reduktion der sozialen Wirklichkeit auf zwei Kollektive (“Kollektivierung”), ein Drängen darauf, sich ausschließlich zu einer Seite zugehörig zu erklären (“Bekenntniszwang”), und ein Mangel an Explikation, was dieses Bekenntnis konkret bedeutet, bei gleichzeitiger Behauptung, eine Erläuterung sei auch überflüssig (“Erklärungsverweigerung”).

Die zentralen Parolen, die im Umlauf sind, sind vieldeutig: "Solidarität mit Israel“ und "Free Palestine“. Sie sind einerseits “empty signifier”, auf die – von innen wie außen – (fast) alle möglichen Deutungen projiziert werden können. Sie fungieren andererseits als Identitätsstempel, die nach innen wie außen markieren sollen, "auf welcher Seite” man steht. 

Damit dienen sie weder als inhaltliche Grundlage für konkrete Politik noch als ausreichender Anfangsverdacht für moralische oder gar rechtliche Verurteilungen. Um für das eine oder andere nutzbar zu sein, müssen Parolen konkretisiert werden, muss gesagt werden, was mit ihnen tatsächlich gemeint ist. 

Solidarität und Völkerrecht

Was bedeutet Solidarität mit Israel? Mit wem ist man solidarisch – der Regierung, dem Staat, dem Volk – und mit welchen Teilen eines Volkes, das doch viele Fraktionen wie Stimmen hat, genau? 

Hat die Solidarität jenseits des Eintretens für das Existenzrecht Israels Grenzen oder ist sie in der Tat “bedingungslos”, also unabhängig vom konkreten Verhalten der staatlichen Gewalten und unter Einsatz aller verfügbaren Mittel? Wie verhält sich eine solche bedingungslose Solidarität zur Selbstverschreibung auf ein universelles Völker- und Menschenrecht?

Ist andersherum mit “Free Palestine” das Ende von Besatzung und Blockade und die Möglichkeit einer gleichberechtigten Koexistenz von Palästinensern und Israelis in einem Staat oder in zwei Staaten gemeint? Oder bezeichnet “Free Palestine“ dasselbe wie "From the river to the sea“, eine Parole, die nach einem Verbot des Innenministeriums in Deutschland öffentlich nicht mehr gerufen werden darf  – und was ist unter dieser Bezeichnung genau zu verstehen? 

Wir wissen, dass "Vom Fluss bis zum Meer“ in der Hamas-Charta steht und genutzt wird, um dem Staat Israel das Existenzrecht abzusprechen. Wir beobachten gleichzeitig, dass die Parole von Kräften in Israel verwendet wird, um ein maximalistisches Staatsprojekt auf dem Gebiet des historischen Palästina zu bezeichnen. 

Wir sehen schließlich Aneignungen und Abwandlungen der Parole ("From the river to the sea, we demand equality“) durch Teilnehmende an Massenprotesten in westlichen Großstädten, die die Unterstellung einer genozidalen Absicht kränkt und die in ihr einen Ausdruck von Rassismus und Islamophobie sehen.

Und in akademischen Publikationen wird der Satz verwendet, um die Lebensverhältnisse von Menschen in einem geographischen Raum zu bezeichnen, in dem eine Zweistaatenlösung als immer unrealistischer erscheint. Diese Vieldeutigkeit ist in den Parolen versteckt, aber nach ihr wird selten gefragt.  

Suche nach Verschütteten in Chan Junis
Suche nach Verschütteten in Chan Junis, Gazastreifen (Foto: Ahmad Hasaballah/Getty Images)

Stattdessen kursieren allerlei Behauptungen von Gleichsetzungen. Eine Gleichsetzung von Jüdinnen und Juden mit Israel ist zwar typisch für den Kriegsdiskurs, aber zugleich doch demagogisch. Nicht selten steckt dahinter eine eigene Form des Antisemitismus. Antisemitismus ist nie und in keiner Form gerechtfertigt.

Das bedeutet aber nicht, dass Israels Politik, israelische Politiker, die israelische Regierung von berechtigter Kritik auszunehmen wären. Auch hier verbieten sich falsche Kollektivierungen: Es gibt nicht das homogene israelische Volk, schon gar nicht das jüdische Volk. Bester Ausweis für die gebotene Differenzierung sind die laufenden Proteste in Israel selbst, die sich gegen die Politik der Netanjahu-Regierung wenden und am Rande derer eine Minderheit explizit nach einer Waffenruhe rief. 

Eine Gleichsetzung von Palästinenserinnen und Palästinensern mit der Hamas sowie von Demonstrierenden, Migranten, Muslimen in Deutschland mit Hamas-Unterstützern ist ebenso demagogisch und nicht selten ein Vehikel für rassistische und islamophobe Agenden. Es ist selbstverständlich möglich, für die Einwanderung muslimischer Männer und gegen Antisemitismus zu sein, so sehr uns die Entweder-Oder-Logik mancher medialer Beiträge auch das Gegenteil weismachen will und so verbittert diskursive Trittbrettfahrer und Kriegsgewinnler sich bemühen, den Antisemitismus als Importproblem auszuweisen.

Statt Bemühungen um Differenzierung hören wir jedoch vielfach Forderungen nach eindeutigen Bekenntnissen, die sich ebenfalls formelhaft artikulieren. Dieser Bekenntniszwang ist auch Grundlage für die Begrenzung des legitimen Diskursraumes und für das Markieren von Tabus, mit denen die Argumentation “der Gegenseite” von vornherein als irrig und empörend ausgemacht ist. 

Ein Diskurs, der auf Bekenntnissen baut, ist aus Sicht der Friedensforschung normativ abzulehnen, weil er zum Entweder-oder zwingt, wo doch ein Sowohl-als-auch möglich wäre. Wer etwa darauf beharrt, die militärischen Antworten des Staates Israel auf die Terror-Attacken der Hamas sollten verhältnismäßg sein, negiert nicht automatisch die Grausamkeit der Verbrechen an Zivilisten durch die Hamas. 

Wer einen Waffenstillstand fordert, kann dies angesichts steigender Todeszahlen unter der Zivilbevölkerung in Gaza sehr wohl tun, ohne Israel das Recht auf Selbstverteidigung prinzipiell abzusprechen.

Quälendes Warten auf Nachrichten über die Freilassung von Geiseln
Quälendes Warten auf Nachrichten über die Freilassung von Geiseln (Foto: Alexander Ermochenko/REUTERS)

Analysieren heißt nicht relativieren

Das Reden in Parolen und Kollektivierungen und die Forderung von Bekenntnissen sind auch analytisch zurückzuweisen, denn sie verhindern die Auseinandersetzung mit den Ursachen, dem Ablauf und den Folgewirkungen des Hamas-Überfalls vom 7. Oktober. 

So beinhaltete der Angriff der Hamas neben brutalster, transgressiver und propagandistischer terroristischer Gewalt gegen Zivilisten auch Formen der Guerilla-Gewalt gegen Sicherheitskräfte. Noch nicht geklärt ist, wer den Überfall innerhalb der Hamas geplant und angeordnet hat, wer zu welchem Zeitpunkt in der Organisation darüber informiert wurde und wer jenseits der Hamas am Gewaltexzess beteiligt war. 

Es bleibt auch nach wie vor unklar, wie das Verhältnis zwischen der Hamas und Akteuren der selbsternannten “Achse des Widerstandes” bei den Terrorangriffen zum Tragen kam. Die Achse besteht aus dem iranischen und syrischen Regime, der libanesischen Hisbollah sowie im weiteren Sinne aus den jemenitischen Huthis und mehreren irakischen Milizen – und eben der Hamas, die hier eine wechselhafte jüngere Geschichte durchlebte.

So gab es in jüngerer Vergangenheit einen mehrjährigen Bruch (2012-2017) zwischen Hamas und dem syrischen Regime, weil sich die Hamas auf die Seite der syrischen Protestbewegung und insbesondere der oppositionellen Muslimbruderschaft gestellt hat. In der Folge war auch die Allianz der Hamas mit dem Iran und der Hisbollah zeitweise suspendiert. 

Die Anschläge der Hamas in analytischer Absicht in die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts und der regionalen Politik einzubetten, bedeutet nicht, sie zu relativieren oder sie rechtfertigen zu wollen. Die normative Frage nach der Legitimität und Illegitimität von Gewaltanwendung ist zentral.

Aber man muss sie von einer Perspektive unterscheiden, die der Wahl terroristischer Mittel durch Akteure in einem laufenden Konflikt analytisch auf den Grund geht. Im Sinne richtiger Schlussfolgerungen für künftige Konflikte und deren Bearbeitung sind beide Perspektiven relevant.
 

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"Wir müssen die Zwischentöne vernehmen"

Parolen, Kollektivierungen und Bekenntniszwang beeinträchtigen auch die Strategiefähigkeit. Sie machen das Nachdenken über nächste Schritte, über Optionen und realistische Utopien jenseits der Antagonismen unmöglich.

Wir müssen die Zwischentöne aus Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft vernehmen und verstärken. Die Zwischenräume zu vergrößern, sollte Ziel einer differenzierten, empathischen und demokratisch verfassten Diskurskultur gerade angesichts einer allzu schmerzhaften, bedrängenden und überaus verstörenden Konfliktrealität und Gewalteskalation sein. 

Es steht jeden Tag viel auf dem Spiel: das Leben von palästinensischen Zivilisten, die durch israelische Militärschläge getötet werden, die auf der Flucht hungern, verdursten und keine ausreichende Gesundheitsversorgung erhalten ebenso wie das Leben von israelischen und internationalen Geiseln, die bisher nicht gerettet und nicht freigelassen wurden.

Genauso steht jeden Tag die Unversehrtheit von israelischen Zivilisten auf dem Spiel, die durch den Raketenbeschuss der Hamas bedroht und verletzt werden, aber auch die Sicherheit von Palästinensern im Westjordanland, die von militanten Siedlern angegriffen werden. 

Jeden Tag steht die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in Deutschland auf dem Spiel, die durch antisemitische Übergriffe verängstigt werden und sich ausgeliefert sehen, aber auch die Sicherheit von Menschen, die als Muslime, Araberinnen oder Migranten gelesen werden, die sich als Deutsche wie Nicht-Deutsche in unserer Mitte nicht mehr gehört und zugehörig fühlen, und denen Teile des Staates und der Gesellschaft offen drohen, sie verwirkten ihre Schutzrechte und ihre Zugehörigkeit stehe unter Vorbehalt. 

Und schließlich geht es um das friedliche und respektvolle Miteinander in unserer Gesellschaft, das schon länger unter Beschuss steht und das es dringend zu verteidigen, ja zu reparieren gilt. Es ist heute dringlicher denn je, radikalen Universalismus von Menschenrechten, Empathie angesichts menschlichen Leids und menschlicher Sicherheit für alle zu behaupten und einzufordern.

Hanna Pfeifer und Irene Weipert-Fenner

© Qantara.de 2023 

Der Beitrag ist zuerst erschienen im Blog des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung. 

Hanna Pfeifer ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Radikalisierungs- und Gewaltforschung in Kooperation mit der Goethe-Universität Frankfurt und Leiterin der Forschungsgruppe "Terrorismus“ am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Sie forscht u.a. zu staatlichen und nicht-staatlichen Gewaltformen und –akteuren in der MENA-Region. Twitter: @hanna_pfeifer

Irene Weipert-Fenner ist Projektleiterin im Programmbereich "Innerstaatliche Konflikte“, Koordinatorin der Forschungsgruppe "Regimewettbewerb“ und wissenschaftliche Mitarbeiterin am HSFK. Sie forscht zu autoritären Regimen, Demokratisierung und politischer Transformation, Protest und sozialen Bewegungen. Ihr regionaler Fokus ist Nordafrika. Twitter: @iweipert