Die Urszene einer globalen Konfrontation
Der 11. September veränderte die Welt. Er hat die politische und geistige Landkarte neu gezeichnet. Er markiert einen Einstieg in die Logik der Eskalation. Unsere Generation weiß, wie so etwas beginnt und wie sich so etwas hochschaukelt. Was wir bisher nicht wissen: Wie so etwas aufhört. Von Robert Misik
Man sieht die Menschen, wie sie hastig nach unten fliehen, und die Feuerwehrleute, wie sie nach oben stürmen. Den Rauch. Die Pfützen der Löscharbeiten. Die staunenden, fragenden, entsetzten Gesichter. Man hört Lärm, von dem man nicht weiß, woher er kommt.
Was man nicht sieht in Oliver Stones neuem Film World Trade Center, das sind die bekannten Bilder, die, die sich aller Welt eingebrannt haben. Und dann realisiert man, dass die einzigen Menschen auf diesem Planeten, die die kanonisierten Sequenzen nicht kennen, die die Flugzeuge nicht gesehen haben, wie sie am 11. September 2001 in die Türme des World Trade Center in New York gekracht sind, jene Menschen sind, die sich in den beiden Türmen befunden haben.
Es ist wie eine Allegorie auf die doppelte Existenz des 11. September: Hier der 11. September als Urszene einer neuen globalen Konfrontation – und da der 11. September der, ja, buchstäblich "kleinen Leute", die von den zusammensackenden Wolkenkratzern zermalmt wurden wie Ameisen, denen ein Elefant auf den Bau steigt. Hier der 11. September als Startschuss zum "Krieg gegen den Terror", der 11. September George W. Bushs – da der 11. September der Opfer.
"Der Anschlag wurde zur Rechtfertigung eines unpopulären Krieges, er wurde zur Waffe in Wahlkampagnen", schreibt Bruce Kluger, Kommentator von USA Today, nur um sich geekelt abzuwenden.
"Downtown New York war in diesem Moment ein Utopia der Trauer", meint John Homans im New Yorker. "Die Stadt schien komplett neu." Aber die Bush-Regierung "hat den 11. September einfach gekapert", von einer Geschichte der Verletzung in eine Geschichte der Vergeltung verwandelt.
Ein welthistorischer Bruch
Was wir in Filmen wie WTC und dem vielstimmigen Erinnerungsstakkato dieser Tage erleben, ist auch der Versuch, den 11. September noch einmal von dem zu reinigen, was danach kam – vom Afghanistankrieg, dem "War on Terror", der Irakinvasion, von Guantanamo Bay und Abu Ghraib.
Aber schon der Versuch zeigt die Unmöglichkeit des Unterfangens. Der 11. September ist eben ein welthistorischer Bruch: der Bruch, der unsere Zeit konfiguriert – nicht weniger bedeutend wohl als Mauerfall und Sowjetkollaps.
Er hat eine Art Kraftfeld aufgespannt, das die Szenerie sortiert. 9/11, die Haltung zur amerikanischen Politik, die Dynamik des globalen kulturellen Konfliktes – all das sind die wesentlichen Fragen, entlang denen sich aktuelle Frontstellungen im Geistesleben und neue intellektuelle Bündnisse bilden.
Der 11. September taucht alles in einen spezifischen Äther. Er ist die Gretchenfrage unserer Zeit und sie kam, gewissermaßen, an einem einzigen Vormittag über uns. Die alten Karten sind Makulatur, seither zeichnen wir an einer neuen Kartographie der geistigen Welt.
Wahrscheinlich wird all das bis heute eher noch unterschätzt als überschätzt.
"Wir" gegen "Sie"
So richtig es ist, darauf zu insistieren, dass "der Westen" kein monolithischer Block ist und "der Orient" eher eine Phantasmagorie als eine trennscharfe Kategorie, so blauäugig ist es: Denn selbstverständlich ist die Konfrontation zwischen dem Westen und der islamischen Welt als Resultat des 11. September und seiner Folgen ein Faktum:
die Konstellation "Wir" gegen "Sie"; das Bedrohungsgefühl im Westen, das Gefühl chronischer Demütigung in jenen Weltregionen, die nicht "zum Westen" gehören; die Vorstellung der Einen, man müsse sich, letztlich mit welchen Mitteln auch immer, gegen eine neue "totalitäre Bedrohung" zur Wehr setzen, und die Vorstellung der Anderen, man könne sich in einer Welt, in der Macht und Ohnmacht so klar verteilt sind, nur mit spektakulären Mitteln Gehör schaffen.
Letztendlich bestimmen auf beiden Seiten die Radikalen die Agenda, da helfen all die gut gemeinten Hinweise nicht, dass doch die Vernünftigen wahrscheinlich die Mehrheit stellen.
Denn wer schließlich prägt im Westen die Dynamik? Bushs Entourage oder diejenigen, die für Dialog und Gleichberechtigung plädieren? Und wer auf muslimischer Seite? Die Radikalen oder diejenigen, die mit dem Bild vom Islam als "friedliebender Religion" hausieren gehen?
Es war in diesen fünf Jahren, wie es immer ist, wenn sich Eskalationen hochschaukeln: Jede Seite lieferte der anderen mit schöner Regelmäßigkeit Argumente.
Die Welt hat sich verändert
Irakinvasion und die Bomben in den Madrider Vorortzügen, Abu Ghraib und die grobkörnigen Bilder von den islamistischen Kopfabschneidern, Guantanamo und die Bomben in der Londoner Tube, Mauerbau in Palästina und Katjuscha-Raketen aus dem Libanon, antiwestlicher Furor in der arabischen Welt und antiislamischer Furor im Westen. Grassierende Bedrohungsgefühle in westlichen Großstädten und der Generalverdacht gegen alle, die irgendwie fremdländisch aussehen.
In fünf Jahren hat sich die Welt dramatisch verändert. Sie ist, dem irren Optimismus der amerikanischen Demokratieexport-Apologeten zum Trotz, kein besserer Ort geworden, sondern ein Ort mit mehr Gewalt, mehr Hass, mehr Rachegedanken. Wir wissen heute, wie so etwas beginnt. Wir wissen, wie sich die Spirale hochschraubt, in einer Konfrontationslogik ohne leicht erkennbaren Ausgang.
Was wir heute noch nicht wissen: Wie so etwas aufhört. Die Konfrontation ist eine in vielerlei Hinsicht asymetrische. Eine der Asymetrien besteht darin, dass wir es auf ideologischer Ebene mit einem Generalkonflikt zu tun haben, mit einer Spaltung, die irgendwie nach "Weltkrieg" schmeckt und riecht, militärisch freilich mit einer Auseinandersetzung niedriger Intensität. Noch immer sind die Anschläge im Westen eher die Ausnahme als die Regel und die Kriege sind lokal sehr begrenzt.
Das ist gut, hat aber einen Nachteil: Das kann noch lange so weiter gehen. Die übliche Exit-Option aus Konflikten, dass die Kriegsparteien ausbluten, ihre Kraft verlieren, ist deshalb keine realistische Aussicht – Gott sei dank, muss man natürlich sagen.
Zulauf zu Radikalen wächst
Realistischer ist da schon, dass sich in der einfachen Bevölkerung eine starke Kraft für Mäßigung aufbaut, weil der Preis zu hoch wird, den die Mehrheit für das Abenteurertum der Radikalen zu bezahlen hat – und die Radikalen nach und nach isoliert werden.
Die Voraussetzungen dafür sind nicht allzu gut. Zwar leiden in den muslimischen Gesellschaften letztendlich viele unter dem, was die Radikalen anrichten – bisher wächst aber eher der Zulauf zu den Radikalen.
Im Westen wiederum ist der Preis, den die "normalen Leute" im Alltag für die Konfrontation zu entrichten haben, bisher doch relativ niedrig, sodass der Druck für eine Korrektur der Politik noch sehr schwach ist.
Sehr wahrscheinlich ist, dass das alles noch fünf bis zehn Jahre weiter geht. Möglich freilich ist auch, dass die Woge nach und nach verebbt, wenn in den islamischen Milieus die Realisten die Radikalen millimeterweise zurückdrängen und im Westen die an sich starken Traditionen der Pazifisierung von Konflikten und des Zweifels an der Militarisierung von Politik wieder stärker zum Tragen kommen.
Ein Anfang ist gemacht, wenn sich in den USA zum Jahrestag des 11. September jene merkbar Gehör verschaffen, die die Geschichte dieses Anschlags als eine Geschichte von Verletzung erzählen wollen und nicht als Geschichte von der Notwendigkeit der Vergeltung.
Robert Misik
© Qantara.de 2006
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