"Die Politik der verbrannten Erde muss ein Ende haben"
Was steckt hinter der gegenwärtigen Gewalteskalation in der Provinz Rakhine?
Phil Robertson: Mit ihrer Offensive gegen die Gemeinschaft der Rohingya reagieren die Sicherheitskräfte von Myanmar auf einige Anschläge der Befreiungsarmee "Arakan Rohingya Salvation Army" (ARSA) vom 25. August. Diese Anschläge waren offenbar der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Nun werden sie von der Regierung als Vorwand benutzt, um in die Gebiete der Rohingya einzudringen und gegen die Zivilisten dort eine Politik der verbrannten Erde zu führen.
Eine bevorzugte Taktik der Sicherheitskräfte besteht darin, zu behaupten, sie wollten lediglich Aufständische bekämpfen, doch stattdessen haben sie es auf die Zivilbevölkerung abgesehen. Wir vermuten, dass sie gerade dabei sind, Hunderte von Dörfern zu zerstören. Von fast vierzig dieser Dörfer liegen uns Satellitenaufnahmen vor, die zeigen, wie systematisch und flächendeckend das Militär bei der Zerstörung vorgeht. Auch durch Zeugenaussagen von Flüchtlingen wird bestätigt, dass die Dörfer der Rohingya von Sicherheitskräften umzingelt sind. Viele der Bewohner wurden erschossen, andere sind geflohen und konnten entkommen. Einige der Flüchtlinge berichten, dass sie unterwegs sehen konnten, wie ihre Dörfer in Flammen aufgingen.
Welche Rolle spielt dabei Myanmars Regierungschefin Aung San Suu Kyi?
Robertson: Erstens hat Aung San Suu Kyi auf ihrer Webseite sehr schwere Anschuldigungen gegen die lokalen Vertreter der Vereinten Nationen und der Nichtregierungsorganisationen erhoben. Sie seien an der Unterstützung von Terroristen beteiligt, doch Beweise dafür hat sie bislang nicht geliefert. Durch diese Aussagewerden nun alle humanitären Organisationen, die versuchen, in Rakhine zu arbeiten, zu potenziellen Zielscheiben. Viele von ihnen sehen sich gezwungen, ihre Tätigkeit einzustellen, was natürlich erhebliche Folgen hat. Sogar die innerhalb des Landes vertriebenen Menschen in den Lagern westlich von Sittwe, wo etwa 120.000 Personen weit weg von der Gewalt und den Säuberungsaktionen leben, bekommen keine Lebensmittel mehr – weil die Mitarbeiter der örtlichen Hilfsorganisationen Angst haben, die Lager zu betreten.
Zweitens hat Aung San Suu Kyi behauptet, zu allem, was in Rakhine geschieht, würden die Terroristen einen "gewaltigen Eisberg an Falschinformation" verbreiten. Also hat sie entweder politische Gründe dafür, die Rohingya nicht zu verteidigen, oder sie ist mit dem, was die Sicherheitskräfte tun, völlig einverstanden. Was auch immer der Fall sein mag: Sie hat sich damit jedenfalls an die Spitze der Leugner und Verdränger gestellt. Statt die Armee zur Ordnung zu rufen und deren Anführern zu sagen, dass sie zu weit gegangen sind, stellt sie sich schützend vor sie und bekommt so die ganzen Anschuldigungen selbst ab.
Für ihr Schweigen wurde sie massiv kritisiert. Eigentlich hatte die Bevölkerung von ihr erwartet, dass sie die Menschenrechte und die menschliche Würde verteidigen würde. An diesen Erwartungen ist sie gescheitert, und viele fühlen sich massiv von ihr im Stich gelassen. Natürlich ist bekannt, dass Aung San Suu Kyis Macht durch die Verfassung von 2008 erheblich eingeschränkt ist. Also kann sie den Oberbefehlshabern der Streitkräfte nicht offiziell befehlen, mit diesen Grausamkeiten aufzuhören, da die Verfassung ihnen bei sicherheitspolitischen Themen völlig freie Hand gibt. Aber auf jeden Fall könnte sie ihre Stimme erheben und den Sicherheitskräften Steine in den Weg legen, doch noch nicht einmal das hat sie getan.
Als Aung San Suu Kyi noch eine politische Gefangene war, jahrelang unter Hausarrest stand und sich gegen Myanmars Militärdiktatur wehren musste, hatte sie ganz klar gesagt: „Nutzt eure Freiheit dazu, sich für unsere einzusetzen.“ Die Menschen sahen das als eindeutigen Hinweis darauf, wohin sie wollte und wofür sie stand. Der Grund, warum sie von der internationalen Gemeinschaft so stark unterstützt wurde, war, dass sie als Symbol für den Widerstand gegen die Militärdiktatur, für den Schutz der Menschenrechte und für die Würde aller Menschen galt. Fast könnte man meinen, zwischen ihr und der internationalen Gemeinschaft hätte es einen informellen Vertrag gegeben. Sie war ungeheuer beliebt. Die Dinge, für die sie sich einsetzte, waren so wichtig, dass die Leute vergaßen, dass sie eine Politikerin ist.
Bei der Frage nach dem Status und der Lage der Rohingya duckt sie sich völlig weg, weil sie weiß, dass diese Volksgruppe in Myanmar sehr unbeliebt ist. Dass sie aber angesichts der Gräueltaten schweigt, erzeugt auf globaler Ebene eine Dynamik, die darauf hinausläuft, dass sie von der Welt nicht mehr unterstützt wird. Irgendwann hat San Suu Kyi das Abkommen mit der internationalen Gemeinschaft aufgekündigt, das ihr damals für den Fall, dass sie an die Macht kommen und sich für die Menschenrechte einsetzen würde, Unterstützung versprach. Ihren Teil dieses Abkommens hat sie nicht erfüllt – noch nicht einmal ansatzweise. Und nicht nur in Rakhine gibt es Probleme: Auch in anderen Provinzen von Myanmar flammen Konflikte zwischen ethnischen Gruppen und Sicherheitskräften auf. Was wir hier sehen, ist ein völliges moralisches Versagen der politischen Führung.
Besteht die Gefahr einer Radikalisierung? Könnte Rakhine zu einer Brutstätte des IS werden?
Robertson: Diese Fragen können jetzt noch nicht beantwortet werden. Natürlich kann niemand völlig ausschließen, dass Menschen radikalisiert werden – insbesondere diejenigen, die über die furchtbaren Taten der Sicherheitskräfte empört sind. Aber manche Beobachter stellen gerade alle möglichen Spekulationen in den Raum. Man hört, die Rohingya-Miliz ARSA stecke mit dem IS oder Al-Qaida unter einer Decke. Es scheint fast so, als hätte die Lobby der Terrorbekämpfer gern eine neue Front, an der sie sich austoben kann. Die ARSA hat ganz klar betont, dass sich ihre Aktionen nur auf die Lage in Rakhine beziehen, und dass sie nicht an internationalen dschihadistischen Aktivitäten beteiligt ist. Sie sagt, sie wolle nicht mehr, als die Rohingya zu beschützen. Soweit wir wissen, richteten sich die Anschläge der ARSA vom 25. August gegen die Polizeikräfte. Die Regierung und die Armee von Myanmar behaupten, die ARSA sei eine Terrorgruppe, haben aber bisher keine Informationen oder Beweise geliefert, die diese Behauptung belegen könnten.
Human Rights Watch fordert, dass diese Feindseligkeiten aufhören müssen. Wir benötigen dringend Berichterstatter, die sich vor Ort über die Lage der Menschenrechte ein Bild machen können und informieren. Wir müssen die Bevölkerung befragen und herausfinden, was genau passiert ist.
Alle Akteure sollten sich dann zusammensetzen und über den Plan sprechen, der von Kofi Annan und der Rakhine-Beratungskommission vorgeschlagen wurde. Er enthält positive, kluge, realistische und zukunftsgerichtete Reformen, mit denen einige der größten Probleme gelöst werden könnten. Leider wird dieser Bericht momentan nicht beachtet, da die Gewalt und die Grausamkeit in Rakhine nach den Anschlägen der ARSA und der Militäroffensive alles überdecken.
Wer könnte dabei helfen, die Lage zu beruhigen? Welche Rolle könnte beispielsweise die EU dabei spielen?
Robertson: Die Diplomaten der EU und weiterer Regierungen, die sich in Rangun und anderswo aufhalten, müssen die Regierung in Myanmar auffordern, Druck auf die Armee auszuüben. Die Lage ist überaus dramatisch: Der einzige Ausweg besteht darin, dass die EU und andere Staaten Aung San Suu Kyi und die führenden Mitglieder ihrer Regierung dazu bewegen, an das Militär zu appellieren, ihre Politik der verbrannten Erde zu beenden. Die Regierung von Myanmar muss damit aufhören, den Sicherheitskräften einen Blankoscheck zu geben, nur weil es sich bei den Opfern um Rohingya handelt.
Das Interview führte Roma Rajpal Weiss.
© Qantara.de 2017
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff