Bekenntnisse einer Muslimin
Fatima Daas – so der Name, den die 26-jährige Autorin angenommen hat und den auch ihre Protagonistin trägt – weiß schon früh, dass sie anders ist als ihre Mitschülerinnen. In der Schule legt sie sich mit ihren Mitschülern an, provoziert ihre Lehrerinnen, bringt zwar gute Noten nach Hause, lernt und liest gerne, doch anpassen kann sie sich nicht. Dieses Anderssein, das sie in sich spürt, ist eines der Hauptthemen von Fatima Daas.
Unaufhörlich umkreist sie im Roman das Thema, für das sie ebenso nach einem Ausdruck, wie nach einer Rechtfertigung sucht. "Ich suche Stabilität. Denn es ist schwer, immer abseits zu sein, abseits der anderen.“ "Ich bin eine Lügnerin. Ich bin eine Sünderin.“ "Ich bin zwölf, als ich anfange, mich ‚wie ein Junge‘ zu kleiden.“ "Ich bin eine verstörte, widerspenstige Jugendliche.“
Ähnlich wie die Koransuren beginnt jedes der meist seitenkurzen Kapitel mit demselben Auftakt: "Ich heiße Fatima (Daas)“. Das Symbolhafte ihres Namens wird ebenso zum Gegenstand der Betrachtung, indem sie die Übersetzung für Fatima wiedergibt: "kleine entwöhnte Kamelstute.“ Die litaneihaft wiederkehrende Anrede wirkt wie der Versuch einer Selbstvergewisserung, wie der feste Wille, sich in der Welt zu behaupten und einen Standpunkt zu finden.
In überzeugender Offenheit benennt sie ihre Krankheit (schweres Asthma und Allergien) und stellt ihre Familie vor. Mit wenigen Strichen zeichnet sie ein eindringliches Porträt ihrer Mutter, die als traditionelle Muslimin lebenslänglich an ihr "Königreich“ (die Küche) gebunden ist, während ihr Vater mit Strenge regiert, keinen Widerspruch duldet und seine drei Töchter mit dem Gürtel schlägt.
Lesbisch und religiös: eine Zerreißprobe
Fatima, die sich weigert, ein Opfer zu sein, flüchtet sich in die Religion. Sie betet fünfmal am Tag und spürt "Gott überall, wohin ich gehe, überall, wo ich bin“, doch ihrem Vater wirft sie schon als Jugendliche an den Kopf: "Du bist ein Monster.“ So ist sie hin- und hergerissen zwischen Rebellion und Anpassung. Sie trägt eine Kappe wie die Jungs und hängt in der Schule lieber mit ihnen ab, während sie gleichzeitig spürt, dass sie sich zu Mädchen hingezogen fühlt.
Das Mädchen- und Frausein wird für sie zu einer ständigen Prüfung und so verwundert es nicht, dass sie es hasst, ihre Tage zu bekommen.atima Daas‘ große literarische Kunst besteht darin, sich auf schlichte Aussagen und einfache Sätze zu beschränken.
Sie verteilt ihre Informationen so geschickt, dass der Text an jeder Stelle spannend und offen bleibt. Daas arbeitet mit den Widersprüchen, die ihre Hauptfigur prägen, lässt aber Erfahrungen und Einsichten durchblicken, die zeigen, dass die Erzählerin die Fäden jederzeit zusammenhält.
"Die Liebe war bei mir zu Hause ein Tabu, Zärtlichkeit und Sexualität auch.“ Eine solche Voraussetzung führt nahezu zwangsläufig zu emotionaler Verkümmerung und der Unfähigkeit, Gefühle zu äußern und zuzulassen: "Ich finde selbst, dass es schrecklich ist, ‚Ich liebe dich‘ zu sagen.“
Auch ihre große Liebe Nina, die zwölf Jahre älter ist als sie, kann Fatima kein Selbstvertrauen schenken. Obwohl sie alles mit Nina bespricht und sich ihrer Gefühle für sie sicher ist, bleibt die Beziehung labil: "Mal habe ich Angst, ihr nahe zu sein, mal, ihr nicht nah genug zu sein.“
Die Folge davon ist, dass Fatima mehrere intime Bekanntschaften und Freundinnen hat, zu denen sie sich flüchtet, wenn sie nicht weiterweiß.
Anpassungsdruck von Schule und Familie
Gleichzeitig bleibt der Anpassungsdruck von Seiten ihrer Familie bestehen, solange Fatima in die Schule geht. "Ich soll ein Mädchen sein, also fange ich an, mich in der Schule zu schminken. Ich trage mein Haar lang. Ich sehe immer mehr aus wie eine Frau. Das gefällt den Jungs. Mir gefällt es nicht.“
Auch nachdem die Schule beendet ist und Fatima studiert, bleibt ihre Lebensweise unbestimmt, ihre Beziehungen sind wechselhaft. Diese Informationen streut die Autorin an verschiedenen Stellen in den Text ein, der dadurch seine chronologische Form verliert, was man beim Lesen aber kaum bemerkt.
Sie spricht davon, dass sie vier Jahre lang eine Psychotherapie macht und im Alter von 25 Jahren Nina kennenlernt, und dass sie zu dieser Zeit mit zwei Frauen zusammen ist, mit denen sie auf Queer-Partys geht. Sie scheint sich mit ihrem Leben arrangiert zu haben, doch dann gesteht sie sich ein: "Bevor Nina in mein Leben trat, wusste ich überhaupt nicht mehr, was ich brauchte und was mir fehlte.“
Im Laufe der Lektüre wird klar, dass Fatima viel stärker an ihre Familie und deren traditionelle Werte gebunden ist, als sie selber glaubt. Immer wieder bezieht sie sich auf ihr Verhältnis zu ihren Schwestern, zu Vater und Mutter. Auch die große Bedeutung, die die Ausübung der Religion für sie hat, erschließt sich. Sie spricht mit unterschiedlichen Leuten und einem Imam über die Frage, ob der Koran die gleichgeschlechtliche Liebe grundsätzlich verbiete, ohne sich selbst im Gespräch als lesbische Frau zu erkennen zu geben.
Da die Antwort eindeutig ausfällt und ihr der Gelehrte erklärt, dass gleichgeschlechtliche Liebe nach dem Koran eine Sünde ist, quält sich Fatima, als sie im Bett liegt, und fleht verzweifelt Gott um Erbarmen an. Doch noch während sie betet, weiß sie, dass sie sich nicht ändern kann: "Ich erkläre ganz leise meine Liebe … Ich gelobe, es nie wieder zu tun, dem Anspruch gerecht zu werden, meinen Glauben und meine Verehrung zu stärken … Doch da ist diese Stimme im Hintergrund … Diese Stimme ist mein Nafs – meine Seele –, die mich zum ‚Schlechten‘ verführt.“
"Frankreich ist zugleich ein Misthaufen und das Paradies“
Die Labilität, die Fatima verspürt und der sie nicht entkommt, spiegelt sich auch auf anderen Gebieten wider. So erfährt sie eines Tages, dass sie als spät geborene Tochter nicht vorgesehen war und dass ihre Eltern eigentlich lieber einen Jungen gehabt hätten. "An dem Abend begreife ich, dass ich nicht die bin, die meine Eltern erwartet haben. Die Tochter, die sie sich ausgemalt haben. Ich bin der Sohn, den sie nie hatten.“
Ein weiterer Widerspruch bildet ihre Existenz als algerisch-stämmige Französin. Anders als ihre Geschwister ist sie in Frankreich geboren, wohin ihre Eltern kurz vor ihrer Geburt gezogen sind. Bei Besuchen in der algerischen Heimat trifft sie auf Großeltern und Verwandte, die in einer völlig anderen Welt leben, von der sie sich zugleich angezogen und abgestoßen fühlt.
Sie spürt die tiefe Getrenntheit zwischen beiden Ländern und die Erzählerin findet auch hierfür prägnante, scharfe Worte: "In Algerien ist Frankreich zugleich ein Misthaufen und das Paradies.“ Fatima beobachtet die Fremde mit offenen Augen, spürt, dass sie von ihren Verwandten mit Liebe aufgenommen wird, und schreibt nach ihrer Rückkehr nach Frankreich: "Ich habe das Gefühl, einen Teil von mir in Algerien zurückzulassen, aber denke jedes Mal, dass ich nicht dorthin zurückkehren werde.“
Ein Ausweg aus den unauflösbaren Widersprüchen, die Fatima quälen und denen sie nicht entkommt, ist das Schreiben. Es ist der Roman, den wir hier lesen und über den sie am Ende mit ihrer Mutter in Andeutungen spricht: "Er erzählt die Geschichte eines Mädchens, das kein richtiges Mädchen ist, das weder algerisch noch französisch ist, weder Vorstädterin noch Pariserin, eine Muslimin, glaube ich, aber keine gute Muslimin, eine Lesbe mit anerzogener Homophobie. Was noch?“
Fatima Daas hat einen Roman geschrieben, der in einem harten, eindringlichen Rhythmus, doch nicht ohne poetische Qualitäten den Lebensweg einer jungen Frau beschreibt, deren Gefühle zwischen Zweifel und Widerwille schwanken, die aber auch die Fähigkeit zu großer Leidenschaft in sich entdeckt. Es ist ein erfrischend zeitgemäßes Porträt, das von Sina de Malafosse hervorragend aus dem Französischen übertragen wurde. Autorin und Übersetzerin haben dafür zu Recht gemeinsam den Internationalen Literaturpreis 2021 des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin erhalten. Die klaren knappen Sätze lassen uns die inneren Zerreißproben der Protagonistin auf jeder Seite spüren und halten uns bis zum Schluss in Atem.
Volker Kaminski
© Qantara.de 2021
Fatima Daas, "Die jüngste Tochter", Claassen 2021