Worte wie Feuer

Shida Bazyar; Foto Verlag Kiepenheuer & Witsch/Tabea Treichel
Shida Bazyar; Foto Verlag Kiepenheuer & Witsch/Tabea Treichel

Shida Bazyars neuer Roman ist die literarische Überraschung des Jahres. Er nimmt sich der großen, drängenden Themen unserer Zeit an und ist doch zeitlos. Es geht um Freundschaft, Ausgrenzung und die Blindheit der Gesellschaft gegenüber ihren tiefsitzenden Problemen. Gerrit Wustmann hat das Buch für Qantara.de gelesen.

Von Gerrit Wustmann

Um es direkt zu Beginn zu sagen: Shida Bazyars zweiter Roman "Drei Kameradinnen“, im April diesen Jahres bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, ist das beste und zugleich das wichtigste deutschsprachige Buch des Jahres 2021. Egal, was bis Dezember noch kommen wird.

Dass Bazyar eine brillante Erzählerin ist, die in der hiesigen Gegenwartsliteratur herausragt, hat sie schon mit ihrem Debüt "Nachts ist es leise in Teheran“ (2016) eindrucksvoll bewiesen. Dieses neue Buch ist ein Triumph. Es hat alles, was große Literatur ausmacht, Literatur, die bleiben, die in den Kanon eingehen wird.

Aber der Reihe nach... Der Titel wirft eine Frage auf, die direkt beantwortet sein will: Ja, „Drei Kameradinnen“ ist eine Hommage an Erich Maria Remarques Roman „Drei Kameraden“. Nicht nur dem Titel nach, sondern auch inhaltlich: Es ist ein Buch über Freundschaft und ein Roman über Traumata. War es bei Remarque das Trauma des Ersten Weltkriegs, ist es bei Bazyar das Trauma des NSU und seiner Mordserie. Neben den großen Kernthemen gibt es weitere Parallelen zwischen beiden Romanen: Handlungsort ist, wie bei Remarque, Berlin, und wie bei Remarque wird die Stadt nie explizit genannt. In beiden Büchern wird viel getrunken und geraucht, in beiden Büchern geht es um Zusammenhalt angesichts der Übel der Welt.

Immer die gleiche Frage der Mehrheitsgesellschaft

Drei Kameradinnen, das sind die Erzählerin Kasih und ihre zwei Freundinnen Saya und Hani. Sie sind gemeinsam aufgewachsen in "der Siedlung“, einem sozialen Brennpunkt, wie es wohl landläufig heißt. Die Einkommen sind niedrig, der Anteil von Migranten hoch. Genau das also, was von der weißen Mehrheitsgesellschaft, die solche Viertel in der Regel nur vom Hörensagen kennt, mit allem aufgeladen wird, was der Vorrat an Ressentiments so hergibt. In ihren Zwanzigern treffen die Drei sich wieder, Anlass ist die Hochzeit einer weiteren Kindheitsfreundin, Shaghayegh.

Doch das Wiedersehen wird, so macht es ein das Buch einleitender Boulevard-Artikel klar, von einem furchtbaren Ereignis überschattet: Ein Hausbrand, bei dem zahlreiche Menschen ums Leben kommen, die Täterin soll Saya sein, das Blatt fabuliert von Islamismus und zitiert vermeintliche Zeugen, deren Kreuz auf dem Wahlzettel so nah am rechten Rand stehen dürfte, dass es abzurutschen droht.

Cover des Romans „Drei Kameradinnen“ von Shida Bazyar; Foto: Kiepenheuer & Witsch
Shida Bazyar beschreibt in ihrem Roman zeitlose Dynamiken, so wie das Element der Freundschaft zeitlos ist und man sich noch in hundert Jahren in die drei Protagonistinnen Kasih, Saya und Hani ebenso gut wird hineinfühlen können. "‘Drei Kameradinnen‘ demonstriert, dass all das Gerede von der mangelnden gesellschaftlichen Relevanz von Kunst und Literatur ein großer Irrtum ist“, schreibt Gerrit Wustmann. "Für Bücher wie dieses sind die großen Literaturpreise gedacht, allen voran der Deutsche Buchpreis.“

Kasih schreibt darüber. In einer langen Nacht bringt sie zu Papier, was geschehen ist – oder was geschehen sein soll. Und sie spricht ihre Leserinnen und Leser dabei immer wieder ganz direkt an. Das ist mehr als ein Stilmittel, mehr als eine literarische Spielerei, das wird schon nach wenigen Seiten klar. Denn natürlich weiß Kasih, welche Frage sich das weiße deutsche Durchschnittspublikum als allererstes stellt, welche es ihr stellen will, und dem begegnet sie so: "Ihr wartet auf den Moment, in dem ich euch erkläre, wer von uns aus welchem Land kommt. Das nämlich müsst ihr wissen, bevor ihr euch in uns eindenken könnt. Das ist für euch eine ungefähr so wichtige Information wie die, am Rand welcher deutschen Kleinstadt wir aufgewachsen und wie alt wir sind und wer von uns die Heißeste ist. Ich sage euch dazu nichts. Da müsst ihr durch.“

Die Frage "Wo kommst du wirklich her?“ wird umstandslos dorthin befördert, wo sie hingehört. Und dann erzählt Kasih: Von der Kindheit in der Siedlung; von Schulzeit und Uni, von Elternhäusern, erster Liebe und der einen großen Konstante in ihrem Leben – Saya und Hani. Und sie erzählt von dem, was die Drei neben ihrer Freundschaft verbindet: Der andauernde Alltagsrassismus, den sie ertragen müssen, dem gegenüber sie manchmal schweigen und manchmal ausrasten, gegen den sie einander Halt geben. Von Hani, die sich lieber wegduckt, lieber Entschuldigungen sucht, und der das auch deshalb etwas leichter fällt, weil sie weiß ist.



Saya will sich immer weniger gefallen lassen und schießt dabei manches Mal auch über das Ziel hinaus, etwa wenn sie und Kasih mitten in der Nacht laut in der WG feiern und Kasihs Mitbewohner Robin schlaftrunken um etwas Ruhe bittet vor seiner Prüfung am nächsten Morgen. Dann ist er für Saya nur der weiße Mann, dem sich alle unterzuordnen haben, und Kasih nimmt ihr ein wenig den Wind aus den Segeln, und sagt: Robin wohnt hier, er könne machen, was er will, und außerdem habe er Recht, wir sollten wirklich Rücksicht nehmen.

Kleine Alltagsszenen und kompelexe Perspektiven

Es sind solche kleinen Alltagsszenen, an denen Shida Bazyar all die großen Debatten unserer Gegenwart durchexerziert, und die Stärke des Romans liegt darin, dass sie sich dabei den leichten und greifbaren Eindeutigkeiten und Ausrufezeichen verweigert. Es geht ihr darum, komplexe Perspektiven darzustellen, nachvollziehbar zu machen und sie stehenzulassen. Es geht darum, Widersprüche auszuhalten. Wer sich von einem Buch einfache Antworten erwartet, ist hier falsch. Und das ist gut so!

Eindeutig ist nur eines: Das Entsetzen über die durchs Land ziehenden Nazi-Mörder und den Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit ihnen, dieser fatale Drang, selbst denen, die ein Hakenkreuz anstelle eines Gehirns haben, noch irgendwie entschuldigend entgegenzukommen und einfach damit zu leben, dass diese Extremisten das Internet weitgehend ungehindert als Kübel für all ihren Hass missbrauchen, im Netz Menschen beschimpfen und bedrohen – bis aus Worten Taten werden. Kasih, Saya und Hani wissen, dass sie gemeint sind. Das Internet sei "ein digitaler Gerichtshof, in dem jeder noch so elendige Versager urteilen darf“.

Es ist auch und vor allem ein Buch, das nicht nur jene lesen sollten, bei denen es offene Türen einrennt, sondern das jene weiße Mehrheit lesen sollte, lesen muss, die tatsächlich noch immer nicht begreift, was mit dem Alltagsrassismus aus der Mitte der Gesellschaft gemeint ist. Jene, die ihre dümmlichen Sprüche und den gelegentlichen Gebrauch des N-Wortes für nicht so schlimm oder gar ganz in Ordnung halten oder die gar meinen, Rassismus gäbe es nicht, schließlich hätten sie selbst ja noch keinen erlebt.

Shida Bazyar zerrt all diese und noch eine Vielzahl weiterer Themen aus der unterkomplexen Plattheit medialer Debatten hervor und stellt sie vom Kopf auf die Füße. Aber dabei ist der Roman mehr, weit mehr als nur ein in eine fiktionale Handlung gesponnener Kommentar zum Zeitgeschehen. Er ist ein geschicktes und versiertes Spiel mit einer unzuverlässigen Erzählerin, die stets an den richtigen Stellen darauf hinweist, was echt und was ausgedacht ist (Ist diese Kindheitserinnerung wirklich so passiert? Und wenn nicht – was bedeutet das für das Jetzt?), um bei den Leserinnen und Lesern eine gewisse Unsicherheit auszulösen, denn natürlich dient auch die Grundannahme der Handlung (Wie kam es zu Sayas Radikalisierung? Kam es überhaupt dazu?) dazu, vor Augen zu führen, wie gesellschaftliche Konstrukte, Ressentiments und mit ihnen struktureller Rassismus und Othering funktionieren.

Es sind zeitlose Dynamiken, ebenso wie das Element der Freundschaft zeitlos ist und man sich noch in hundert Jahren in Kasih, Saya und Hani ebenso gut wird hineinfühlen können, wie uns das heute mit Remarques Protagonisten von 1936 gelingt. "Drei Kameradinnen“ demonstriert, dass all das Gerede von der mangelnden gesellschaftlichen Relevanz von Kunst und Literatur ein großer Irrtum ist. Für Bücher wie dieses sind die großen Literaturpreise gedacht, allen voran der Deutsche Buchpreis.

Gerrit Wustmann

© Qantara.de 2021

Shida Bazyar, "Drei Kameradinnen", Kiepenheuer & Witsch 2021