Euro-Islam oder Fundamentalismus? Wie leben Muslime in Europa?
Der bittere Streit unter den Muslimen über die Aufforderung der Bundestagsabgeordneten Ekin Deligöz an die muslimischen Frauen, ihr Kopftuch abzulegen und im Westen anzukommen, hat es gezeigt: Die Auseinandersetzung um die Frage, wie die islamische Gemeinschaft in Europa lebt, wie sie ihre religiösen Werte ausdrücken, wie sie ihre Identität bewahren soll, steht noch ganz am Anfang.
Ein Forschungsprojekt des Zentrums Moderner Orient (ZMO) stellt sich dem Problem: Ob und in welchen Formen ist ein religiös bestimmtes Leben von Muslimen in Europa möglich?
In sieben Studien untersuchen die Forscherinnen und Forscher Gruppen, Bewegungen und Institutionen religiöser Muslime in europäischen Ländern. Das Forschungsvorhaben mit dem vollständigen Namen "Muslime in Europa und ihre Herkunftsgesellschaften in Asien und Afrika im Vergleich: Gelebte Religiosität, ihre Vielfalt und Folgen in unterschiedlichen Kontexten" ist ein Verbundprojekt des ZMO gemeinsam mit den Universitäten Frankfurt/Oder, Hamburg und Halle.
Das Projekt wird durch das Programm "Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und läuft über drei Jahre bis 2009. Die Koordination liegt bei Professor Dr. Dietrich Reetz vom ZMO in Berlin.
Die zweite und dritte Generation
Das besondere Interesse gilt dabei den eigenen Vorstellungen der Muslime von einem islamischen Leben in der europäischen Öffentlichkeit. Ist die Absicht, den Islam öffentlich und demonstrativ religiös in Europa leben zu wollen, eine Absage an den europäischen Wertekonsens? Oder steckt dahinter der Wunsch der zweiten und dritten Generation Einwanderer, mit der eigenen Identität in Europa wahrgenommen und als Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden?
Ist der Vorwurf berechtigt, dass sich Muslime eigentlich nicht integrieren und in ihrer Parallelgesellschaft leben wollen? Oder werden sich künftig zwischen Muslimen und westlich-europäischen Gesellschaften neue Formen der Religiosität herausbilden, die Elemente der Aufnahme- wie der Herkunftsgesellschaft aufnehmen?
Vorbotinnen des Euro-Islam?
So untersucht Dr. Schirin Amir-Moazami von der Viadrina-Universität in Frankfurt/Oder die Vorstellungen über die Rolle der Geschlechter, die in der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) diskutiert werden. Milli Görüs ist einer der größten islamischen Verbände in Deutschland (26.500 Mitglieder) mit engen Verbindungen zur Türkei.
Die IGMG ist in der deutschen Öffentlichkeit umstritten, weil ihr immer wieder enge Verbindungen zu islamistischen Bewegungen nachgesagt werden. Milli Görus tritt zunehmend mit einer positiven Außendarstellung und dem Interesse auf, sich in die gesellschaftlichen Belange Deutschlands einzubringen.
Die Frage, die Schirin Amir-Moazami vor allem interessiert, ist die, an welchen Autoritäten sich die Vorstellungen der muslimischen Gemeinschaft von der Rolle der Frau orientieren. Welche Positionen nehmen Frauen ein, wenn es um die Deutung der geistlichen Quellen geht?
"Bisher hatten die Männer das alleinige Deutungsrecht, was die Deutung der heiligen Schriften angeht", sagt die Politologin. "Mittlerweile gibt es islamische Frauen, die sich das nicht mehr gefallen lassen. Wir haben so etwas wie einen islamischen Feminismus, auch wenn das erst einmal nur ein Schlagwort ist."
Sie verweist etwa auf den Verein Inssan e.V., einer Gemeinschaft von Muslimen, die sich der Humanität und Toleranz verschrieben haben. Sie führen seit einiger Zeit eine Kampagne gegen Zwangsheiraten und Ehrenmorde und setzen sich für Frauenrechte ein. Die Frage ist, ob sich aus dem Aufbruch der Frauen in den muslimischen Gemeinden so etwa wie ein "Euro-Islam" entwickeln könnte.
Zwischen Abgrenzung und Anpassung
Ein weiteres Forschungsprojekt konzentriert sich auf die islamischen Ausbildungseinrichtungen in Deutschland und ihre Rückbindung an die Herkunftsländer der Muslime. Wo und wie werden die Imame, die religiösen Führer, die muslimischen Religionslehrer ausgebildet?
An der Universität Halle ist das Teilprojekt angesiedelt, das die Reformgemeinde der Ahmadiya in Deutschland untersucht. Sie gelten unter den Muslimen als Abweichler. Dabei kommen sie aus einer Region, in der die meisten Muslime der Welt leben: Pakistan und Indien. Das Projekt vergleicht den Umgang mit den Ahmadiya in verschiedenen Ländern. "Zwischen Abgrenzung und Anpassung" bewegen sich zwei weitere islamische Gruppen aus Südasien in der europäischen Diaspora, die Tabilighi Jama'at und die Daw'at-i Islami, denen eine Teilstudie des ZMO gilt.
Beide Gruppen – zu erkennen an der südasiatischen Kleidung – treten für eine islamische Lebensweise ein und hinterfragen die Stellung säkularisierter Muslime in Europa. Sie verstehen sich als Laienprediger, die Muslime in ihrem Glauben stärken und zu einer regelmäßigen Religionsausübung bekehren wollen. Beide Bewegungen sind Vorreiter eines Trends, die Gemeinschaft der Muslime – die Umma – unabhängig von Landesgrenzen international neu zu formieren.
Das Projekt "Islamismus, Reformismus und Zivilisation in Frankreich" (Viadrina) befasst sich mit der Union der Organisation "Islamiques de France" (UOIF), der bedeutendsten und einflussreichsten islamischen Föderation in Europa.
Erfahrungen mit muslimischen Schulen
Schließlich untersucht das Hamburger Teilprojekt, welche Erfahrungen an islamischen Schulen in Südafrika, Großbritannien und den Niederlanden gemacht wurden. Hier geht es um die Fragen: Abgrenzung oder Partizipation? Trägt ein gemeinsamer Unterricht zur Integration bei oder muss ein eigener islamischer Unterricht toleriert werden?
In Großbritannien existieren bereit 116 islamische Schulen. Südafrika hat sie unter dem Apartheidregime zur ethnischen Segregation eingerichtet. Heute werden noch an rund 100 Schulen muslimischen Kindern islamische Werte und Normen vermittelt.
In den Niederlanden wurden islamische Schulen erlaubt, wenn in einem bestimmten Stadtgebiet genügend muslimische Familien lebten. Heute gibt es 30 solcher Schulen. Die Lehrkräfte werden von der Regierung eingestellt und bezahlt.
Empfehlungen an die Politik
Die Ergebnisse des Projekts sollen nicht nur Forschungslücken schließen, sondern auch als Empfehlungen an die Politik aufbereitet werden. Insbesondere denken die Forscherinnen und Forscher an Möglichkeiten, der gegenseitigen Abschottung entgegenzuwirken und muslimische Minderheiten stärker an politischen und gesellschaftlichen Prozessen teilhaben zu lassen.
Professor Dr. Dietrich Reetz schloss allerdings Wertungen aus. "Wir können aber erklären, welche Folgen politische Entscheidungen haben können und was man bedenken sollte, bevor man etwas Neues umsetzt."
Volker Thomas
© Goethe-Institut 2006
Qantara.de
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