Vermintes Gelände
Natürlich beeinflusst das Leben in Europa die Glaubens- und Lebensvorstellungen der hier lebenden Muslime. Wie lässt sich dann angemessen über einen europäischen Islam sprechen? Diese Frage war Thema einer international besetzten Tagung, die vor kurzem in der Katholischen Akademie in Stuttgart stattfand.
Der Beginn der Debatte um den Euro-Islam war unglücklich. Der Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi führte den Begriff Anfang der 1990er Jahre in die Diskussion ein. Er verband damit eine scharfe Kritik an einem traditionellen Islamverständnis, dem es nach Tibi an einer Aufklärung fehle, und stieß damit viele Muslime vor den Kopf.
Für Bassam Tibi sollte der Euro-Islam ein Gegenmodell sein zum Islam in der arabischen Welt und zu allem, was dort bis heute als beklagenswert erscheint. Muslime sollten die "Leitkultur" in Europa übernehmen, was bei vielen als Aufruf zur Assimilation ankam. Seit diesem Auftakt sind die Diskussionen um einen Islam in Europa stets stark polarisiert geführt worden.
Der europäische Islam hat viele Gesichter
Rund 15 Millionen Muslime leben heute in Europa. Ihre Lebenswelten und Identitäten sind höchst verschieden. Während in Westeuropa die meisten Muslime seit den 1950er Jahren zugewandert sind und viele inzwischen in der dritten und vierten Generation dort leben, hat der Islam auf dem Balkan ein völlig anderes Gesicht.
In Bosnien blicken die Muslime auf eine jahrhundertelange Geschichte zurück, sie verstehen sich schon lange als Europäer. Auch in Polen gibt es neben den jüngsten Zuwanderern auch eine kleine Minderheit von muslimischen Tartaren, die seit rund 600 Jahren im Land siedeln. In Frankreich hat der Islam eine starke nord- und westafrikanische Prägung, in Großbritannien sind Muslime vor allem aus Pakistan und Bangladesch zugewandert.
Auch die Deutsche Islamkonferenz will nach ihrem eigenen Anspruch einen Beitrag zum Euro-Islam leisten, der auf diese Weise zu einem Projekt von oben würde. Will etwa der Staat die Vertreter des Islam soweit umarmen, dass ein säkularisierter "Islam light" entsteht? Ein Islam, dem "die Zähne gezogen" wurden, weil er seine verstörenden Aspekte abgelegt hat? Also alles, was in europäischen Ohren "unaufgeklärt" klingt?
Die Scharia zum Beispiel oder die fehlende Trennung von Staat und Religion: Manche Kritiker der vom früheren Innenminister Wolfgang Schäuble ins Leben gerufenen Islamkonferenz sehen in diesem Vorhaben das Bemühen, von außen in innerislamische Debatten einzugreifen.
Schwindende Bindekraft der eigenen Tradition?
Für den deutsch-türkischen Soziologen Levent Tezcan von der Universität Tilburg in den Niederlanden ist der Bezugspunkt in der Diskussion um den europäischen Islam das Christentum. Die Befürworter betrachten den europäischen Islam als den "heilvollen Endpunkt" einer Entwicklung. Dann hätte endlich auch der Islam, wie vor ihm das Christentum, seinen Konflikt mit der Moderne überwunden und sich mit ihren Maßstäben versöhnt.
Die Kritiker sehen genau hierin eine Gefahr und ahnen die Verwässerung der eigenen Religion. Sie sehen leere Kirchenbänke und befürchten verwaiste Gebetsräume in den neu errichteten Moscheen. Es ist die Angst, dass die Bindekraft der eigenen Tradition nachlässt. So wie die christlichen Kirchen mit schwindenden Mitgliederzahlen kämpfen, befürchten auch Muslime, die Jugend an ein säkulares Europa zu verlieren. Eine solche "Verfallsgeschichte" weckt Befürchtungen bei vielen Muslimen. Das Gelände sei "vermint" in der Debatte um den Euro-Islam, meint Tezcan.
Spannend wird es da, wo Muslime selbst darüber nachdenken, was ein europäischer Islam bedeuten könnte. Es sind vor allem jüngere Muslimen der dritten und vierten Generation, die nicht mehr so stark an ihr Herkunftsland gebunden sind, die diese Frage umtreibt.
Im Spannungsverhältnis zwischen muslimischem Leben und Denken in Europa und den Ansprüchen aus den Herkunftsländern liegt ein enormes Konfliktpotential. Das gilt besonders für die Situation in Deutschland. Denn die Türkei erhebt traditionell den Anspruch, auf die türkischen Muslime und die Entwicklungen hierzulande Einfluss zu nehmen.
Eine Art "islamischer Mini-Vatikan"
Ditib, die Türkisch-Islamische Union, der Dachverband von fast 900 Moscheegemeinden, ist eng mit der türkischen Religionsbehörde in Ankara (Diyanet) verbunden. Kerem Öktem vom St. Anthony’s College an der Universität Oxford, bezeichnet die Behörde mit ihren rund 100.000 Mitarbeitern als eine Art "islamischer Mini-Vatikan".
Mit Hilfe der Religionsbehörde nehme der türkische Staat strukturell Einfluss auf Ditib und damit auch auf die türkischen Muslime in Deutschland. Der türkische Staat bezahlt die Hodschas in den Ditib-Moscheen, der Präsident der Ditib in Deutschland ist gleichzeitig Botschaftsrat für religiöse Angelegenheiten an der türkischen Botschaft in Berlin. Auch der türkische Ministerpräsident Erdogan selbst hat sich immer wieder in die Migrationsdebatte in Deutschland eingemischt und seine Landsleute vor einer "Assimilierung" gewarnt.
Für Muslime aus Bosnien ist diese enge Anbindung an ein anderes Land unvorstellbar. Die bosnische Perspektive ist hier eine völlig andere als die der islamischen Verbände in Deutschland. Sie trennten sich schon im Jahr 1882 vom Sheikh ul-Islam in Istanbul. "Das war schmerzhaft, aber langfristig richtig", behauptet Senad Kusur vom islamischen Bildungs-, Kultur- und Sportverband "Bosnien" in Wien und fragt provokant: "Wird es ein 1882 für die westeuropäischen Muslime geben müssen?"
Für die Vertreter der Islamverbände Ditib und Milli Görüs ist das momentan undenkbar. Die Frage löst bei ihnen Ängste aus. Angesichts eines zunehmend islamfeindlichen Europa seien sie nicht sicher, ob ihre Kinder als gleichberechtigte Muslime in Deutschland leben werden.
Die Türkei als symbolischer Rettungsanker
"Können wir die nötigen Strukturen dafür aufbauen?", fragt etwa Mustafa Yeneroglu, Generalsekretär von Milli Görüs. Die Türkei ist für diese Generation der Verbandsvertreter immer noch zumindest ein symbolischer Rettungsanker. Mit einem Bein lebe man doch in der Türkei, meint der Generalsekretär. "Wenn es in Deutschland nicht geht, dann bleibt immer noch die Option, in die Türkei zurückzukehren." Aber wie sieht es für die nächste Generation aus?
Die Strukturen sprechen eine ganz andere Sprache. Für den Soziologen Levent Tezcan gibt es die Moscheevereine, so wie sie in Deutschland existieren, in der Türkei nicht. Die Art und Weise wie sich die Moscheevereine organisieren, sei typisch europäisch. Je mehr islamische Strukturen in Deutschland geschaffen werden, desto mehr werde sich auch ein Verband wie Ditib in Deutschland einrichten und von der Umklammerung durch die Diyanet lösen.
Während die jüngere Generation von Muslimen darauf drängt, sich stärker in die deutsche Gesellschaft einzubringen, fürchtet die ältere den Verlust des Heimatbezugs. Sie haben Angst vor dem Tag, an dem ihre Kinder kein Türkisch mehr verstehen.
Mit der Schaffung der Lehrstühle für islamische Theologie an deutschen Hochschulen und der Einführung eines islamischen Unterrichts in den meisten Bundesländern werden derzeit wichtige Strukturen für den Islam in Deutschland geschaffen. Rabeya Müller vom "Zentrum für Islamische Frauenforschung" (ZIF) in Köln mahnt allerdings an, dass der innermuslimische Dialog zu wünschen übrig lässt, kritische Stimmen würden ausgegrenzt.
Ist der viel beschworene Euro-Islam also nur ein Konstrukt, das mit der Lebensrealität von Muslimen nicht viel zu tun hat, wie Taner Yüksel, Leiter der Abteilung Bildung der Ditib, argwöhnt? Im Zweifel ist die Lebensrealität den intellektuellen Debatten voraus. Der europäische Islam hat schon viel mehr Gestalt annehmen können, als es die islamischen Funktionäre wahrhaben wollen.
Claudia Mende
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de