Wie der Krieg die gesellschaftliche Rolle der Frauen verändert
Seit die Huthis im September 2014 die Kontrolle über Sanaa übernahmen, hat sich der Krieg im Jemen zu einer der schlimmsten humanitären Krisen der Welt entwickelt. Im Jahr 2023 benötigten noch immer 21,6 Millionen Menschen in irgendeiner Form humanitäre Hilfe. Der Krieg hat nahezu die gesamte Infrastruktur des Landes zerstört. Beschäftigte im öffentlichen Dienst erhalten keine Gehälter mehr.
Gleichzeitig hat sich die gesellschaftliche Rolle der Frauen durch den Krieg radikal verändert, da sich viele Frauen eigene Einkommensquellen erschließen mussten. Angesichts von drei Millionen vertriebenen Jemeniten im Jahr 2023, darunter viele Witwen von im Krieg getöteten Männern, tragen viele jemenitische Frauen nun die volle Verantwortung für den Unterhalt ihrer Familien.
2023 betrug nach Angaben der Weltbank der Anteil der Frauen an der erwerbstätigen Bevölkerung 5,1 Prozent gegenüber 60,4 Prozent bei den Männern. Während sich die Rolle der Frauen früher auf Haushalt und Kindererziehung beschränkte, zwingen kriegsbedingte geringere Erwerbsmöglichkeiten, niedrigere Löhne, Arbeitsplatzunsicherheit und/oder der Wegfall grundlegender Dienstleistungen wie Wasser- und Stromversorgung viele jemenitische Frauen dazu, wirtschaftlich unabhängiger zu werden.
Frauen arbeiten mittlerweile in traditionell den Männern vorbehaltenen Bereichen
Seit einigen Jahren arbeiten Frauen zunehmend in Bereichen, die traditionell Männern vorbehalten waren: von Landwirtschaft und lokalem Handel über Industrie und Dienstleistungssektor bis hin zur Computerprogrammierung und Hausrenovierung. Die Vertreibung innerhalb des Landes und der Einkommensverlust vieler Männer haben einige Frauen dazu veranlasst, sich selbstständig zu machen und Geschäfte zu eröffnen, in denen sie Pflegeprodukte, Kunst oder Süßigkeiten verkaufen.
Auch neue Mode- und Bekleidungsgeschäfte für Frauen sind entstanden. So gründete Safaa Muhammad, die einen Bachelor-Abschluss in Bank- und Finanzwesen hat, ihr eigenes Unternehmen "Safi Abaya Stores". Vor dem Krieg arbeitete Safaa für eine Fluggesellschaft - eine Branche, die durch den Krieg fast völlig zum Erliegen gekommen ist. Im Interview erzählte Safaa, dass sie schon als Kind ein Talent für Design hatte. Schon früh fertigte sie Kleider für sich selbst und für Familie und Freunde zu besonderen Anlässen an. Auf der Suche nach finanzieller Unabhängigkeit und besseren Zukunftsperspektiven investierte Safaa ihr Talent in dieses Projekt und hat damit großen Erfolg: Auf ihrer Facebook-Seite hat sie über 80.000 Follower.
"Frauen werden systematisch ausgegrenzt"
Mehr als 200.000 Menschen folgen ihr auf Facebook, auf Twitter sind es ca. 54.000. Nora Al-Jarawi ist eine der prominentesten jemenitischen Politikerinnen. Für Qantara.de berichtet sie, wie kein Tag vergeht, an dem sie sich nicht gegen Angriffe im Netz wehren muss, nur weil sie offen ihre Stimme erhebt.
Entschlossenheit und Kreativität
Hanaa Al-Kabsi ist Inhaberin und Geschäftsführerin von Hue Studio. Sie bietet Fotos von Hochzeiten und privaten Feiern an. Hanaa hat einen Bachelor-Abschluss in Programmieren und kennt sich gut mit Grafikdesign aus. Sie verlor ihren Job, als ihre Kunden zu Beginn des Krieges aus dem Land flohen. Im Jahr 2016 gab ihr ein Verwandter eine Kamera und riet ihr, Hochzeiten zu fotografieren und dabei auf ihre bereits vorhandene Erfahrung in Fotografie und Design zurückzugreifen. Mit der geliehenen Kamera und nur einer Assistentin begann Hanaa, auf Hochzeiten zu fotografieren. Heute ist sie eine gefragte Spezialistin auf diesem Gebiet.
1999 verabschiedete der Jemen ein Gesetz, das Mittel für die Verbesserung der Sauberkeit in allen Städten des Landes vorsah. Nach Jahren des Krieges reichten die Mittel nicht einmal mehr aus, um die Löhne der Beschäftigten zu bezahlen. Die Ingenieurin Ertfaa Al-Qubati ergriff die Initiative, um die Verschmutzung in den Straßen von Sanaa in den Griff zu bekommen. Um der drohenden Ausbreitung von Krankheiten durch die Müllberge in den Straßen entgegenzuwirken, stellte sie ein eigenes Team zusammen. Heute leitet sie ein Zentrum zur Sensibilisierung für Umweltfragen und ist Botschafterin des guten Willens für die International Norwegian Organization for Justice and Peace.
Mit Entschlossenheit und Kreativität ist es vielen jemenitischen Frauen gelungen, den Widrigkeiten des Krieges zu trotzen und neue berufliche Wege zu gehen. Dies ist ein starkes Zeichen für persönliches Engagement und ihre Fähigkeit, zum Wiederaufbau beizutragen. Die Leistungen der Frauen könnten auch den Grundstein für eine langfristige Veränderung der gesellschaftlichen Stellung der Frau im Jemen legen: Dass die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen und die damit verbundene Verbesserung ihrer Gesundheit, Bildung und Teilhabe am Erwerbsleben sowie die Gleichberechtigung der Geschlechter zur Norm werden.
Mit diesen Frauen als Vorbilder wird die nächste Generation jemenitischer Frauen gut vorbereitet sein, um nicht nur schwierige persönliche und soziale Umstände zu meistern, sondern auch überkommene Vorstellungen von der Rolle der Frau in der Gesellschaft infrage zu stellen.
Sarah Al-Kbat
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Sarah Al-Kbat ist Journalistin und Faktenprüferin. Sie hat einen Master in Medienwissenschaften.