Tolerierte Gewaltorgie

Es geht nicht um ein Fußballspiel, das außer Kontrolle geraten ist. Bei den zahlreichen Opfern der Krawalle rund um das Erstligaspiel in Port Said geht es um handfeste Politik.

Von Karim El-Gawhary

Kaum jemand glaubt an eine zufällige Eskalation im Stadion. Die Ausschreitungen wurden von den Sicherheitskräften zugelassen oder gar angezettelt, lautet der Vorwurf. Dieser lässt sich leicht durch die Bilder des ägyptischen Fernsehens belegen. Auf den sozialen Medien kursieren Bilder von Polizeibeamten, die das Geschehen auf ihren Handys festhalten, ohne einzugreifen.

Viele in Ägypten erinnern sich an das Mantra des vor einem Jahr gestürzten Diktators Husni Mubarak: "Wenn ich nicht mehr bin, kommt das Chaos." Absichtlich hatten dessen Schergen rund um seinen Sturz dieses Chaos geschürt. Um diesem Marketingkonzept des Diktators Nachdruck zu verleihen, hatten sie die Gefängnisse geöffnet und bezahlte Schläger losgeschickt.

Nun, sagen viele, benutzt das Militär die gleiche Strategie, schürt Chaos, um sich dann als Ordnungsmacht an der Spitze des Staates zu halten. Port Said ist das Hauptquartier der Ersten Ägyptischen Armee.

Revolutionäre Schlachtrufe der Ultras

Die Fans des Kairoer Clubs Al-Ahli, die Ultras, die die meisten Toten in Port Said zu verzeichnen haben, sehen sich als gezielte Opfer. Vielen gelten sie in Ägypten als Helden der Revolution. Sie waren an all den 18 Tagen des Aufstandes gegen Mubarak an vorderster Front.

Sie stürmten später die Gebäude der Staatssicherheit, belagerten die israelische Botschaft und lieferten sich Ende 2011 tagelange Straßenschlachten mit Polizei und Militär. Schon seit dem Sommer lautet einer der Schlachtrufe der Ultras: "Stürzt den Obersten Militärrat!" Viele Mächtige haben mit den Ultras eine Rechnung offen.

Als am vergangenen Donnerstagmorgen (2.2.2012) der Zug mit den Fans aus Port Said im Kairoer Hauptbahnhof einfuhr, gab es emotionale Szenen. Familien und Freunde warteten auf dem Bahnsteig, bangten, wer tot oder verletzt in Port Said zurückgeblieben war. Die Trauer mündete in Wut gegen den Obersten Militärrat. "Nieder mit der Militärherrschaft", "wir fordern den Kopf des Feldmarschalls Tantawi", hallte es.

Auch einige der Parlamentarier, wie der liberale Abgeordnete Amr Hamzawy, der einst in Berlin studiert hat, nahmen kein Blatt vor den Mund. "Das war organisiertes Chaos, um die Lebensdauer des Militärrates an der Macht zu verlängern, nachdem die Straße dessen Sturz fordert", erklärte er vor einer Sondersitzung des Parlaments.

Die Muslimbruderschaft zwischen den Stühlen

Die begann turbulent mit dem Sprecher des Parlaments, dem Muslimbruder Muhammad al-Katatni, der zu Beginn der Sitzung deren Liveaustrahlung verbieten lassen wollte. Eine Mehrheit der Abgeordneten stimmte allerdings gegen den Antrag. Es ist der erste große Test für das mehrheitlich von den Islamisten geführte Parlament.

Die Muslimbrüder sitzen derzeit zwischen den Stühlen: Militärrat und Straße. Sie versuchen zwischen beiden zu balancieren, während der Druck der Straße auch am Donnerstag mit einer Demonstration vor dem Parlament zunimmt. In einer ersten Erklärung der Muslimbruderschaft in Port Said drückt diese den Opfern ihr Beileid aus und erklärt: "Was hier geschehen ist, ist mehr als der Enthusiasmus und Intoleranz der Fans, die durchgedreht sind. Es war ein absichtlicher Versuch, jetzt Zwietracht zu sähen und Ägypten an den Rand des Abgrunds zu bringen."

Inzwischen hat der vom Militärrat bestimmte Premierminister Kamal El-Ganzouri den Rücktritt des Gouverneurs von Port Said akzeptiert. Draußen auf der Straße fordern die Demonstranten unterdessen auch den Rücktritt El-Ganzouris und seines gesamten Kabinetts.

Außerdem sollen die Präsidentschaftswahlen vorgezogen werden, nachdem das Militär laut Plan seine Exekutivmacht an einen zivilen Präsidenten übergeben soll. Für Heute Nachmittag haben die Ultras einen Marsch auf das Innenministerium in Kairo unweit des Tahrirplatzes angekündigt.

Karim El-Gawhary

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de