Viel heiße Luft

In einer Welt, in der Menschenrechte immer öfter mit Füßen getreten werden, befürchten Menschenrechtsaktivisten und Gewerkschafter, dass die von Qatar gegebenen Versprechen zu Arbeitsmarktreformen und Freiheiten genau dies bleiben: bloße Versprechen. Von James M. Dorsey

Von James M. Dorsey

Die kontroverse Vergabe der Austragungsrechte hat in Qatar sicherlich zu mehr Offenheit bei der Diskussion von Themen beigetragen, die zuvor tabu waren. Beispielsweise über die Rechte der Arbeiter, die die überwältigende Bevölkerungsmehrheit in dem kleinen, aber rohstoffreichen Golfstaat stellen. Oder die Definition dessen, was die Identität von Qatar ausmacht, und welche Rechte Einwanderer auf Erwerb der katarischen Staatsbürgerschaft haben sollten. Nicht zu schweigen von den Rechten und der sozialen Stellung von Frauen oder gesellschaftlichen Randgruppen, wie Homosexuellen.

Themen, die einst mit dem Hinweis auf die Privatsphäre oder Familienehre unter Verschluss blieben, stehen jetzt auf der öffentlichen Agenda. Anfang November schrieb ein 28-jähriger Qatarer in der Doha News, die Regierung verwehre mit ihren Richtlinien jungen Männern und Frauen das Recht, die Person ihrer Wahl zu heiraten.

Unter dem Pseudonym Yousef beschrieb der junge Qatarer, wie er gezwungen wurde, sich von seiner aus Osteuropa stammenden Frau zu trennen, nachdem die Regierung die Anerkennung der Ehe und die Erteilung eines Aufenthaltstitels mit der Begründung abgelehnt hatte, seine Frau sei keine Muslimin – obwohl diese zuvor konvertiert war.

Das Leben der Menschen als Spielball

"Unsere Ehe hat aus mir einen anderen Menschen gemacht. Ich bin aus meinem Glashaus herausgetreten und konnte unsere kulturellen Werte erstmals infrage stellen. So verstehe ich beispielsweise nicht, warum wir Männer in Qatar in Clubs gehen dürfen, wo Alkohol serviert wird, der zuständige Ausschuss mir aber erklärte, Kultur und Tradition meiner Frau passten nicht zur unsrigen. Das ergibt für mich keinen Sinn", schrieb Yousef. "Ich glaube, die Regierung Qatars macht das Leben der Menschen zu ihrem Spielball. Es tut weh, mitanzusehen, wie mein Land auf globaler Bühne über Menschenrechte spricht, aber seinen eigenen Bürgern das Recht verweigert, die Menschen ihrer Wahl zu heiraten. Ich will wissen, warum mein Antrag abgelehnt wurde. Liegt es daran, dass meine Familie nicht einflussreich genug ist? Haben wir nicht die richtigen Beziehungen?

Ich kenne viele Qatarer, die mit ausländischen Frauen verheiratet sind und die in weniger als einem Monat eine Genehmigung erhielten, nur weil sie jemanden aus der Regierung kannten. Warum darf jemand eine zweite oder dritte Frau heiraten, ein anderer aber nicht einmal eine einzige?", fügte er hinzu. "Ich werde Qatar verlassen und im Ausland leben müssen, wenn ich mit einer Ausländerin verheiratet sein will", folgert Yousef. "Das macht mich wütend. Denn ich liebe mein Land. Ich will weder Qatar noch meine Familie verlassen müssen. Aber welche Möglichkeit bleibt mir?"

Yousefs Notlage hat ihre Ursache im selben Problem, unter dem die Arbeitsmigranten leiden, die in einem Patronatssystem leben, das sie der Gnade ihrer Arbeitgeber ausliefert: Es geht um die Existenzfähigkeit einer demographischen Ordnung, in der die Bürger Qatars nur 12 Prozent der Einwohnerzahl ausmachen. Und es geht um die Furcht, jede Veränderung könne den Einfluss dieser Minderheit auf Gesellschaft, Kultur und Staat gefährden.

Nach sechs Jahren Vorbereitung auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 glauben nur noch wenige Beteiligte, dass das quälend langsame Tempo Qatars zur Umsetzung von Reformen oder gar zur Abschaffung des Patronatssystems namens Kafala an den starren demographischen Realitäten des Landes liegt.

Das Patronatssystem wurzelt tief

Infolge der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft und im Unterschied zu anderen Golfstaaten arbeitete Qatar zunächst mit seinen Kritikern zusammen. Diese mahnten Veränderungen bei den Arbeits- und Lebensbedingungen der auf den WM-Baustellen beschäftigen Arbeiter an. Das Organisationskomitee der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Qatar sowie andere große qatarische Organisationen übernahmen Standards und Modellverträge in Zusammenarbeit mit Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch.

Neue Maßnahmen gegen einen Missbrauch des Kafala-Systems sollten laut Plan noch vor Ende des Jahres in Kraft treten. Doch diese Maßnahmen greifen zu kurz, wenn es um die Grundrechte der Arbeiter geht.

Vor dem Hintergrund eines jüngsten Amnesty-Berichts, der Behauptungen des Organisationskomitees entgegentritt, man selber wende die Standards wohl an, könne diese aber nicht bei Vertragspartnern durchsetzen, die nicht für die Weltmeisterschaft arbeiten, kann man davon ausgehen, dass die FIFA mehr direkte Verantwortung für das Thema übernehmen muss, zumal sie wegen des Fiaskos bei den Arbeitsbedingungen immer stärker unter Druck gerät.

Wegen der Arbeitsbedingungen in dem Golfstaat hat jetzt eine niederländische Gewerkschaft vor einem Schweizer Gericht Klage gegen die FIFA erhoben. Der Weltfußballverband kündigte daraufhin an, mit Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft in Qatar werde man die lokalen Organisationskomitees für die großen Turniere abschaffen.

[embed:render:embedded:node:20267]Der 52-seitige Bericht von Amnesty verwies auf acht Bereiche, wo Arbeiter, die am Bau des Khalifa International Stadium mitwirken, immer noch missbraucht und ausgebeutet werden. Trotz aller Bemühungen zahlen die Arbeiter weiterhin völlig überzogene Anwerbegebühren, leben unter haarsträubenden Bedingungen, werden mit falschen Lohn- und Arbeitsversprechen nach Qatar gelockt, erhalten keine pünktliche Zahlung, können Qatar nicht aus eigenen Stücken verlassen oder ihre Arbeitsstelle wechseln und werden im Beschwerdefall von ihren Arbeitgebern bedroht.

Das qatarische Supreme Committee for Delivery & Legacy bekräftigte in einer Stellungnahme, dass die von Amnesty Anfang 2015 festgestellten Missstände bereits im Juni dieses Jahres angegangen worden seien. Die Probleme hätten vier von etwa 40 am Bau des Khalifa International Stadium beteiligte Unternehmen betroffen. Von drei dieser Firmen habe man sich getrennt.

Wie ernst meint es Qatar?

"Die Behauptungen von Amnesty International zeichnen ein irreführendes Bild und sind für unsere Bemühungen nicht hilfreich. Wir sind seit jeher davon überzeugt, dass die Weltmeisterschaft als Katalysator für Veränderungen dienen wird. Sie wird nicht auf dem Rücken ausgebeuteter Arbeiter ausgetragen werden. Wir weisen die Vorstellung zurück, Qatar sei als Gastgeber ungeeignet zur Ausrichtung der Weltmeisterschaft", so eine Verlautbarung des Supreme Committee.

Das Supreme Committee trat zudem einem möglichen Vorwurf entgegen, Qatar bliebe hinter seinen Zusagen zurück. Man werde an den aktuellen Auflagen zum Alkoholverbrauch auch während der Fußball-Weltmeisterschaft festhalten. Qatar hatte zuvor verlautbaren lassen, der Alkoholgenuss bliebe nicht allein auf Hotelbars beschränkt, sondern erstrecke sich während des Turniers auch auf bestimmte weitere Orte im Land.

Arbeitsmigranten auf einer WM-Baustelle in Qatar; Foto: picture-alliance/dpa
Schuften nicht um jeden Preis: Für die Arbeiter auf den berüchtigten Baustellen für die Fußball-WM 2022 in Katar gibt es etwas Hoffnung. Dank eines neuen Abkommens von Mitte November sollen internationale Gewerkschafter künftig die Arbeitsbedingungen kontrollieren. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International haben nach dem neuen Abkommen für gemeinsame Kontrollen auf den WM-Baustellen in Qatar dennoch zahlreiche Nachbesserungen gefordert.

Die Freiheit, Bier oder andere Alkoholika zu trinken, sollte jedoch nicht zum Lackmustest für eine erfolgreiche Weltmeisterschaft hochstilisiert werden. Das Turnier könnte demografisch gesehen eine ganz andere Zusammensetzung mit weit mehr Fans aus dem Nahen Osten, Nordafrika und der muslimischen Welt anziehen, denen Alkohol weniger bedeutet als ihren westlichen Gegenstücken.

Doch der Fallrückzieher beim Alkohol in Verbindung mit zunehmend angespannten Beziehungen der Qatarer zu Menschenrechtsgruppen und Gewerkschaften sowie das Schneckentempo bei den Arbeitsreformen wirft einen Schatten auf die Ernsthaftigkeit der offiziellen Bemühungen Qatars.

Der weltweite Aufstieg populistischer Führungsfiguren könnte von Qatar als Gelegenheit genutzt werden, den Ball bei der Durchführung eigener Reformen flachzuhalten. Das wäre durchaus denkbar. Doch denkbar wäre auch, dass populistische Führungsfiguren auf der Welle des Nationalismus stärker denn je die Rechte ihrer Landsleute im Ausland einfordern.

James M. Dorsey

© Qantara.de 2016

James M. Dorsey ist Senior Fellow an der "S. Rajaratnam School of International Studies" der Nanyang Technological University in Singapur, Co-Direktor des Instituts für Fankultur an der Universität Würzburg sowie Autor des Blogs "The Turbulent World of Middle East Soccer" sowie eines unter demselben Titel kürzlich erschienenen Werks. Darüber hinaus hat er jüngst zusammen mit Dr. Teresita Cruz-Del Rosario das Buch "Comparative Political Transitions between Southeast Asia and the Middle East and North Africa" herausgegeben.

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers