Bilder einer sich wandelnden Gesellschaft
Linien, sie sich miteinander verbinden, versetzt aufeinander zulaufen und auf diese Art Quadrate bilden, die ihrerseits abstrakte geometrische Formen ergeben. Reine Formen, die das Wort "Allah", "Gott", eher andeuten als eindeutig ausbuchstabieren.
Die bis zur äußersten Abstraktion getriebenen Kalligraphien der saudischen Künstlerin Lulwah al Homoud schweben zwischen Religion und Kunst, lassen sich keinem der beiden Bereiche eindeutig zuordnen. Denn längst hat die Kalligraphie, die einst dazu diente, die Suren des Korans zu verzieren, Eingang in die moderne Kunst gefunden.
Dort wird sie auf zeitgenössische Form neu interpretiert – teils ohne jeden Bezug auf die religiösen Traditionen, sehr oft aber auch in deutlichem Bezug auf diese. Und ganz gleich, wie die Künstler im einzelnen zur Religion stehen, ob sie sich ihr verbunden fühlen oder auf Distanz zu ihr gehen: Der Kern religiösen Denkens hat sich auch in den zeitgenössischen Interpretationen der alten Zeichenkunst erhalten.
Lulwah al Homoud stellt sich ganz bewusst auch in eine religiöse Tradition. Für sie drückt die Kalligraphie das geistige Leben aus – nicht die äußere Existenz, die Natur, die Landschaft, sondern die innere. Die Kaligraphie, erklärt sie, sei eine Philosophie des Seins. Und wie sich die Kalligraphie auf ihrem Weg von Mekka bis nach Indien, Persien, Europa der Welt öffnete, so wolle auch sie sich mit ihrer Kunst der Welt zuwenden.
Siegeszug der modernen Kunst
Rund 60 Jahre ist es her, dass die Menschen in Saudi-Arabien erstmals in Kontakt mit der modernen säkularen Kunst traten. Sie kam im Zuge des Erdölbooms ins Land, der sich in den 1930er Jahren abzuzeichnen begann. Das Öl veränderte die Gesellschaft – und damit auch deren Vorstellungen von der Kunst.
Der Widerstand gegen Kunst und künstlerische Aktivität ist in Saudi-Arabien längst nicht so stark, wie man annehmen könnte, im Gegenteil: Bereits im Jahr 1957 wurde Kunst als Lehrfach an höheren Schulen eingeführt, ein Jahr später auch an allen anderen Schulen. Und 1964 fand die erste offizielle Ausstellung moderner Kunst statt.
Seitdem seien die Vorbehalte gegen moderne, auch darstellende Kunst immer geringer geworden, und seitdem sei die Kunstszene kontinuierlich gewachsen, erklärt der Künstler und Kritiker Abdulaziz Ashour, der soeben einen großen Band zur saudischen Gegenwartskunst veröffentlicht hat. Es gebe immer mehr Ausstellungen, viele Künstler würden eingeladen, an bestimmten Projekten mitzuwirken, es gibt einen öffentlichen Diskurs über die Kunst. Die alten Vorbehalte gegen die Kunst sind deutlich geringer geworden.
Das mag auch daran liegen, dass viele saudische Künstler sich nicht gegen die Religion wenden, sondern in deren Geist weiterarbeiten. Die vielfach ausgezeichnete Fotografin Reem al Faisal etwa.
In ihren Bildern fängt sie den Alltag in Saudi-Arabien ein – einen Alltag, in den die Moderne immer stärker vordringt. Der Markt ihrer Heimatstadt Dschidda mutet auf ihren Fotos auf den ersten Blick zeitlos an. Wer aber genau hinschaut, erkennt die vielen asiatischen Gastarbeiter, die dort ihr Geld verdienen. Das sind Spuren der Globalisierung, die das Leben in der alten Hafenstadt verändern.
Dennoch haben Reem al Faisals Bilder eine starke Aura, strömen eine Ruhe aus, die die der Vorlagen in der wirklichen Welt hinter sich lässt. Das ist durchaus gewollt, erläutert die Künstlerin. Die Grundlage ihrer Arbeit sei die islamische Kunstphilosophie. Auch ihr komme es darauf an, das Leben in seinen geistigen Dimensionen auszudrücken.
Zwischen Ost und West
Das schließt aber einen neuen, unbefangenen Umgang mit modernen Bilderwelten nicht aus. Auch das sieht man auf Reem al Faisals Fotographien. Von den Frauen haben längst nicht alle ihre Gesichter bedeckt, viele blicken ganz offen, ohne jedes vor Blicken schützende Stück Stoff in die Kamera, ohne Sorge, dass deren Auge ein Verstoß gegen die Vorgaben der Religion wäre. Nein, sie haben nichts dagegen, fotografiert zu werden – und so sind Reem al Faisal großartige Bilder von einer Gesellschaft im Übergang gelungen.
Es kein Zufall, dass viele saudische Künstler im Ausland leben, zumindest einige Jahre dort verbracht haben. Reem al Faisal lebt in Paris, Lulwa al Homoud in London, ebenso wie der Kritiker Abdulaziz Ashour. Er hebt ganz offen hervor, wie wichtig die westliche Kultur für seine künstlerische Entwicklung gewesen ist und weiterhin ist. Ihn hätte vor allem die Literatur beeinflusst, die formalen Experimente der Avantgarde. Durch sie sehe er nun auch die herkömmliche Kunst seines Geburtslandes mit neuen Augen.
Tradition der Bewegung
Ähnlich äußert sich auch Reem al Faisal. Und doch, meint sie, das ständige Reisen sei für die Menschen Saudi Arabiens im Grunde nichts Ungewöhnliches. Schließlich seien sie ursprünglich Nomaden gewesen. Ständig auf der Wanderschaft, hätten sie sehr früh Bekanntschaft mit unterschiedlichen Traditionen und Kulturen gemacht und darüber gelernt, Vergleiche anzustellen, zu relativieren. So hätten sie eine metropolitane Kultur avant la lettre entwickelt, und darüber sei das Fremde zum festen Bestandteil der saudischen Kultur geworden.
Die Menschen wandern, und mit ihnen die Bedeutungen. Auf die künstlerische Spitze getrieben, entzieht sich die Kalligraphie dem schnellen Zugriff, sträubt sich dagegen, umstandslos gelesen und gedeutet zu werden. Der Blick wandert hin und her, glaubt hier, dann dort etwas zu erkennen, in den Linien eine bekannte Form und damit auch einen Gedanken zu erkennen.
Genau dagegen aber sträubt sich die moderne Kunst, dagegen sträuben sich auch zeitgenössische Künstler, die die Tradition der Kalligraphie aufgreifen. Sie proben ein flüssiges Denken, das sich auch in den ruhelosen Linien ausdrückt. Sie sperren sich rigoroser Vereinnahmung. Das Auge, das ihnen folgt, muss mit dem immer nur Vorläufigen zu leben lernen.
Kersten Knipp
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Redaktion: Arian Fariborz & Lewis Gropp/Qantara.de