Bitte nicht in die Fußstapfen der Eltern!
Generationskonflikte sind keine Neuigkeit. Jeder muss sie schon mit seinen Eltern, Verwandten oder Lehrern erlebt haben. Es ist vollkommen normal, dass Meinungsunterschiede zwischen Menschen verschiedener Altersgruppen auftreten. Wenn diese Unterschiede aber zu viel werden und gegenseitiges Verständnis dagegen seltener wird, dann kann sich jeder vorstellen, wie schwierig das Familienleben sein kann.
Streitigkeiten zwischen Eltern und ihren Kindern kennt auch in Ägypten jeder nur zu gut. Auf der Straße, in Supermärkten, in der Nachbarswohnung – überall sind Schreie und Beleidigungen von beiden Seiten zu hören, sodass eine ägyptische Familie, die nicht tagtäglich laut wird und in Frieden lebt, eine seltene Erscheinung geworden ist.
Wählen wir drei Jahre aus, die jeweils den folgenden drei Generationen zugeordnet werden können: Großeltern, Eltern und Jugendliche. Zum Beispiel: 1957, 1987 und 2017. Natürlich kann man sie nach tausend Aspekten miteinander vergleichen, aber wir wollen uns auf das wichtigste Schlüsselwort konzentrieren: die Medien. 1957 waren lokale Zeitungen und Radiosendungen die üblichen Nachrichtenquellen. Schwarz-Weiß-Fernseher konnten sich nicht alle leisten. 1987 waren Farbfernseher in Mode, PCs noch nicht. Mit der Einführung des World Wide Webs im Jahr 1991 kommt ein wichtiges Medium hinzu, das bald vieles verändern wird.
Angekommen im Zeitalter der Globalisierung
Mit dem Internet liegt uns die ganze Welt zu Füßen oder besser gesagt auf unseren Bildschirmen. Die "ganze Welt" bedeutete aber für unsere ägyptischen Großeltern und Eltern nichts weiter als ihre Heimatstadt. Meine Generation lernt mindestens eine Fremdsprache in der Schule (die mittlerweile eine internationale Schule sein kann), schaut lieber amerikanische Filme im Fernsehen, hört weltweit berühmte Musikgruppen, bevorzugt Markenklamotten, wünscht sich das neue Apple-Handy zum Geburtstag, möchte gerne im Ausland studieren, fragt nach Dingen wie Kommunismus, Atheismus und Homosexualität.
Irgendwann wird es zu viel für die armen Eltern, für die Mc Donald’s, Jeanshosen und Michael Jackson höchste Modernität waren. Und genau wie der alte Spruch sagt, "Was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht", fühlt sich die ältere Generation dem schnellen Tempo und der materiellen Natur des 21. Jahrhunderts gegenüber oft entfremdet. Folglich versuchen sie ihre Kinder gemäß ihrem alten, als "richtig" empfundenen Lebensstil zu erziehen.
Jedoch weigern sich die Kinder, zur großen Enttäuschung ihrer Eltern, in einer anderen Zeit als ihrer eigenen zu leben. Und so entsteht schon während der ersten Jahre der Eltern-Kind-Konflikt, der mit der Adoleszenz so stark wird, dass in vielen Fällen die beiden Generationen unwiderruflich "inkompatibel" werden.
Die ägyptische Kultur ist kein Hollywood-Film!
Die Ägypter lieben das Fernsehen. Egal, ob es amerikanische Filme oder türkische Serien sind, das Fernsehen hat jede Menge Einfluss auf die Gesellschaft, insbesondere auf Jugendliche. Stellen wir uns zwei ägyptische 18-Jährige, einen Jungen und ein Mädchen, vor. Der Junge sieht Jugendliche seines Alters im Fernsehen Alkohol trinken, mit Mädels quatschen, gegen den Willen ihrer Eltern handeln, mit 18 Jahren ausziehen, den Glauben ändern, allein die Welt entdecken. Das Mädchen sieht ihresgleichen problemlos mit Shorts herumlaufen, in der Öffentlichkeit Freunde berühren und küssen, ohne Aufsicht mit Freundinnen die Ferien im Ausland verbringen, einen Nebenjob während des Studiums suchen, über die Zukunft selbstständig entscheiden. Dann schalten beide den Fernseher aus und sind mit der Realität der ägyptischen Gesellschaft konfrontiert.
Ägyptische Jugendliche rebellieren mit ihrem Verhalten nicht nur gegen ihre Eltern (was in einem bestimmten Alter eigentlich normal ist), sondern gegen jahrhundertealte Gesellschaftsnormen. Dann beschweren sich die Eltern und vergleichen ihre Kinder mit sich selbst als Jugendliche, um zur üblichen Feststellung "so schwierig sind wir nie gewesen" zu kommen. Aber hier kommt die Frage: Wenn eine Person sich in einer bestimmten Art benimmt, nur weil sie keine Alternativen kennt, ist es dann eine Frage des Willens?
Kein bedingungsloser Gehorsam
In östlichen Kulturen, inklusive der ägyptischen Kultur, wird hauptsächlich aus religiösen Gründen großer Wert auf das Verhalten gegenüber Eltern gelegt. Jedoch ist unter Ägyptern oft die Fehlinterpretation verbreitet, dass gutes Verhalten mit bedingungslosem Gehorsam, und zwar blinder Natur, zusammengefasst werden kann.
"Du weißt noch nicht, was gut für dich ist. Dafür bist du noch zu jung. Also musst du auf mich hören", so die gängigen Aussagen der Elterngeneration. Dabei ignorieren die Eltern eine wichtige Tatsache: Die heutige junge Generation wurde mit offenen Augen geboren. Wir wissen schon viel mehr von der Welt, als unsere Eltern wussten, als sie in unserem Alter waren. Eine Kindheit von absoluter Unschuld und Naivität hatten wir vielleicht in den ersten paar Jahren unseres Lebens erfahren, später dann nicht mehr.
Ob dies nun gut ist oder schlecht, ist nicht das eigentliche Thema. Wichtig ist, dass wir in einem Alter von, sagen wir mal, 16 Jahren in erster Linie nicht mehr Wissen brauchen, sondern Erfahrung. Aber unsere lieben Eltern wollen, dass wir zu Hause bleiben und nur noch für die Schule lernen! Woher soll dann die Erfahrung kommen? Und genau deshalb fühlen sich die meisten ägyptischen Jugendlichen nach ihrem Schulabschluss und manchmal sogar nach ihrem Bachelor total ahnungslos und verloren, weil sie weder zu Hause noch in der Schule etwas Praktisches von der "Außenwelt" gelernt haben.
Alternative Erziehungsmodelle
Anstatt zu Hause zu bleiben, um täglich für die Abschluss-Prüfung an der Schule zu lernen, sollten Eltern ihre Kinder ermutigen, die Welt mit eigenen Augen zu entdecken. Sie sollten Fehler zulassen und ständige Kritik sein lassen. "Unsere Eltern mögen uns nur, wenn wir das Richtige tun", "Ich habe oft Angst vor meinen Eltern": So fühlen sich viele ägyptische Kinder, weil ihre Eltern Fehlern meist nur mit Aggressivität, verbaler und körperlicher Natur, begegnen.
Natürlich lieben alle Eltern ihre Kinder, selbst wenn sie das Falsche tun, aber sie vergessen, dass Liebe, auch Elternliebe, gezeigt werden muss. Folglich entfernen sich die Kinder von ihren Eltern und suchen Rat und Unterstützung bei anderen Erwachsenen, zum Beispiel bei Lehrern. Dann beschweren sich die Eltern wiederum, dass ihre Kinder ihnen nichts mehr erzählen. Und anstatt das Problem im ruhigen Gespräch zu lösen, werden sie misstrauisch, daraufhin noch aggressiver und der Teufelskreis fängt von vorne an.
Das Smartphone ist zu wertvoll, um weggelegt zu werden!
Eltern (nicht nur in Ägypten) meinen oft, meine Generation sei süchtig nach Smartphones und dergleichen. Anstatt denselben Satz ("Leg dieses Schrottstück doch endlich mal beiseite!") unendlich oft zu wiederholen, sollten an Schulen und in Vereinen Programme angeboten werden, die Jugendlichen beibringen, wie sie von ihrer Online-Zeit profitieren können und nicht nur Selfies posten und Stars folgen. Das Internet gestaltet nicht nur unseren Alltag, sondern unsere Geschichte und Politik. Sehen wir uns nur mal den Arabischen Frühling an! Das Smartphone ist doch zu wertvoll, um einfach weggelegt zu werden!
Anstatt Jugendlichen zu verbieten, ohne Aufsicht auf Ausflüge oder ins Ausland zu gehen, muss man sie von Anfang an so erziehen, dass sie zu vertrauenswürdigen Menschen heranwachsen.
Ein weiterer geläufiger Vorwurf ist die scheinbare "Undankbarkeit". Hier könnten die Eltern das ältere Kind beauftragen, für das jüngere Kind oder das Haustier zu sorgen, damit es erkennt, wie schwierig es ist, sich für ein anderes Lebewesen verantwortlich zu fühlen. Wenn "Gier" in Form von ständigen Nachfragen nach neuen unnötigen Geräten, Klamotten oder einfach zu viel Geld ein Problem ist, dann bietet sich eine einfache Lösung: Ein Sommerjob für die Kinder, um ihnen den Wert des Geldes beizubringen.
Der Gedanke, dass nur Ärzte und Ingenieure erfolgreich sind, sollte endlich aus der ägyptischen Gesellschaft verschwinden. Der Druck, der auf OberstufenschülerInnen ausgeübt wird, um in die Fakultät für Medizin bzw. Ingenieurwissenschaften aufgenommen zu werden, ist echt unmenschlich. Eine gute Seite des 21. Jahrhunderts ist, dass jeder mit genug Mühe und Kreativität erfolgreich sein kann.
Ein anderer Punkt, der sich in Ägypten ändern muss, ist die Haltung von Erwachsenen dem Thema Sex gegenüber. Unsere Großeltern redeten nicht mit unseren Eltern darüber und so wollen unsere Eltern auch bis zur Hochzeitsnacht stumm bleiben. Heute geht das nicht mehr, weil das Thema überall gegenwärtig ist: in den Medien, in Freundschaftskreisen, auf den Straßen in Form von sexueller Belästigung oder gar Vergewaltigung. Jeder junge Mensch muss seine Rechte und Verantwortungen verstehen, wenn es um das Thema Sexualität geht, und es ist die Verantwortung von Eltern und Schulen ihm oder ihr diese beizubringen.
Es gibt Dutzende von Beispielen, die alternative Erziehungsmethoden verdeutlichen. Und wenn sie alle in einem einzigen Satz zusammengefasst werden können, finde ich den folgenden arabischen Ausspruch überaus passend: "Zwingt Eure Kinder nicht dazu, in Eure Fußstapfen zu treten, denn sie wurden für eine andere Zeit als die Eure bestimmt."
Und unsererseits?
Das Wichtigste, was Jugendliche meiner Meinung nach heute ihren Eltern entgegenbringen sollten, ist Empathie. Wenn wir uns in die Schuhe unserer Eltern ab und zu hineinversetzen, wird vieles verständlich. Ich würde mir auch Sorgen machen, wenn meine Tochter bis Mitternacht nicht heimkommt und nicht an ihr Handy geht. Es würde mich auch nerven, wenn mein Sohn sein iPhone zum zweiten Mal verloren hat. Und natürlich würde es mir unglaublich schwerfallen, meine Kinder aus der Elternwohnung ausziehen zu lassen. Es ist heute auf keinen Fall einfach, entweder Kind oder Erwachsener zu sein. Und außerdem kann einem im 21. Jahrhundert wirklich schwindlig werden, so viel müssen wir zugeben.
Engy Ashraf
© Goethe-Institut Kairo/"Perspektiven"
Engy Ashraf, 20 Jahre alt, in Alexandria geboren, ist Absolventin der Deutschen Schule der Borromäerinnen. Nach ihrem Abschluss im Jahr 2015 ist Engy nach Kairo gezogen und hat ein Semester Russisch und Französisch an der Alsun Fakultät für Sprachwissenschaft und Übersetzung studiert. 2016 wechselte sie die Studienrichtung und studiert nun im dritten Semester Medizin an der Universität von Alexandria.