"Gibt es in Europa Liebe wie bei uns?"
Eigentlich wollte er nur ein paar Orangen kaufen. Der schlaksige Forscher aus Berlin hatte ja nicht ahnen können, dass seine schlichte Bemerkung "Sag mal, läuft da nicht gerade im Radio das Liebeslied Inta Umri?" den ägyptischen Obsthändler dazu veranlassen würde, seine Kollegen von den Nachbarständen zusammenzutrommeln. Und dann war da auf einmal dieser Menschenauflauf, der ihn umringte und begeistert in die Hände klatschte. "Ya khawaga, ghanni! – Ausländer, sing!", jubelten sie.
Der Forscher holte tief Luft und begann zu singen: inta umri illi ibtada bi-nurak sabahu – "Du bist mein Leben, dessen Morgen sich mit deinem Licht erhob." Die Leute um ihn herum lachten – ein Ausländer, der das Lied der großen Umm Kulthum beherrschte, das hatten sie noch nie gesehen. Und nachdem der Deutsche seinen Liedvortrag beendet hatte, begann er das zu tun, weshalb er nach Ägypten gekommen war: er sprach mit den Menschen über die Liebe, was diese bereitwillig taten, denn jemandem, der die Liebeslyrik von Umm Kulthum kannte, dem konnten sie vertrauen.
Der Forscher aus Berlin heißt Steffen Strohmenger und ist 51 Jahre alt. Heute sitzt er in seinem Büro in Berlin-Kreuzberg, wo er nach seiner Rückkehr aus Kairo die Ergebnisse seiner Feldforschung in einem Buch niedergeschrieben hat. "Faszinierend ist", sagt der Ethnologe von der Universität Halle, "dass für einen westlichen Besucher die Liebe kaum sichtbar ist – es gibt wenig körperliche Nähe, geschweige denn Küsse in der Öffentlichkeit. Also redest du mit den Leuten normalerweise über die teurer gewordenen Tomaten oder über Politik. Doch dann entdeckst du staunend, dass es eigentlich die Liebe ist, die sie besonders beschäftigt."
Oh du süßestes Lied, das je mein Herz gehört, das nie vergessen wird.
Nimm mein ganzes Leben, nur lass mich heute leben.
Lass mich an deine Seite, in die Arme deines Herzens
und lass mich träumen.
[Umm Kulthum – Lied "Amal Hayati"]
In Gesang, in Film, in Talkshows und im Gespräch mit Freunden: im Land am Nil ist il-hubb – die Liebe – überall und immerzu, quer durch alle Gesellschaftsschichten vom intellektuellen Universitätsprofessor bis zum ungebildeten Gemüsejungen. Verherrlicht und zelebriert, gefürchtet und verschmäht. Verschmäht, da die großen Gefühle dem traditionellen Konzept ehelicher Verbindungen basierend auf Vernunft zuwiderlaufen; gefürchtet, weil die Macht der Liebe ebendiese Kalküle durcheinander zu bringen vermag.
Doch aus genau denselben Gründen auch verherrlicht und zelebriert – das begehrenswerte Unerreichbare, nach dem zu streben jeder trachtet. "Die großen Gefühle sind ein Störfaktor bei einer Heirat", sagt Steffen Strohmenger. "Manche sehen das so, als ob man in betrunkenem Zustand einen Geschäftsabschluss tätigen wollte."
Gefühle versus Vernunft – wie sind diese beiden Stränge zusammenzuführen? "Das ist die Frage, die die Gesellschaft gerade beschäftigt", sagen Samuli Schielke, der finnische Ethnologe von der Berliner Forschungseinrichtung Zentrum Moderner Orient und sein Schweizer Kollege Aymon Kreil von der Universität Zürich, die so wie Strohmenger seit Jahren die Liebe in Ägypten untersuchen.
Eigentlich waren die beiden in das Land gereist, um über religiöse Ideale im Alltag und Ethikfragen im Islam zu forschen, doch immer, wenn sie darüber mit ihren Gesprächspartnern diskutierten, kam die Rede früher oder später auf die Liebe. Und über die werde in Ägypten als etwas Übermenschliches gesprochen. "Da sowohl Beziehungen vor der Ehe als auch Liebesheiraten nur schwer zu verwirklichen sind, steigert sich die Imagination von Liebe in eine Grandiosität wie wir sie im Westen nicht kennen und ist auch Grund, weshalb sie im ägyptischen Alltag so allgegenwärtig ist", sagt der Finne Schielke und erzählt von einem jungen Dorfbewohner aus dem Nildelta, der eines Tages auf ihn zugekommen war und ihn vertrauensvoll fragte: "Gibt es bei euch in Europa eigentlich auch Liebe wie bei uns?"
Im Land am Nil spricht die Liebe aber ihre eigene Sprache, für Ausländer noch schwieriger zu verstehen als für Ägypter selbst. Auch der 26-jährige Bankangestellte Ahmed Samir aus Kairo hat damit gerade seine Probleme. Sara heißt das Mädchen seiner Träume –an dem einen Tag warm und herzlich, am anderen kalt und unnahbar.
"Teurer Ahmed, du fehlst mir!"
Über Monate, klagt er, ginge das schon. Irgendwann wurde es dem Bankangestellten zu viel und er beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen: Er besorgte sich ein zweites Mobiltelefon, dessen Rufnummer er in seinem eigenen Mobiltelefon als 'Sara' abspeicherte und manchmal, erzählt der 26-Jährige, wenn er die Zuneigung seiner Liebsten besonders brauche, sende er sich einfach selbst eine romantische Kurznachricht zu. 1 new message from Sara. "Teurer Ahmed", liest der Bankangestellte dann, "du fehlst, dass es mich schmerzt. Wann sehe ich dich wieder?"
"Tuql!", sagt Strohmenger, "das ist tuql". Der Ethnologe hat sich nicht nur mit dem Stellenwert der Liebe beschäftigt sondern auch mit deren strukturellen Eigenheiten. Und da spielt das uralte – insbesondere von Frauen – praktizierte Täuschungsmanöver tuql eine zentrale Rolle. Tuql heißt "Schwere" und besteht darin, dem werbenden Mann Desinteresse vorzutäuschen wiewohl in Wirklichkeit verliebt in ihn.
Zum einen demonstriert so eine Frau sehr explizit ihren Anstand – 'Ich bin nur schwer zu bekommen und kein leichtes Mädchen' , zum anderen testet sie mit tuql das Visavis auf dessen Absichten, denn ist ein Mann ernsthaft interessiert, lässt er sich nicht seinfach so abweisen. Und schließlich dient tuql auch dazu, das Begehren des Mannes zu steigern: was schwer zu kriegen ist, gewinnt an Wert. Der Mann indes muss, zumindest nach außen, souverän bleiben – anderes wirkt unmännlich und verliert an Reiz. Eine junge Ägypterin äußerte sich im Gespräch mit Strohmenger zu diesem Punkt einmal erheiternd klar: "I want a man. Äm-Ej-Än – a M A N. You got it?" Der deutsche Ethnologe lacht.
Um die Sache weiter zu verkomplizieren, kommt hinzu, dass tuql – es dauert über Monate – erst dann funktioniert, wenn der andere darum nicht weiß: das vorgetäuschte Desinteresse, das möglicherweise ein echtes ist. 'it-tuql san'a‘ - tuql ist eine Kunst, sagt eine ägyptische Redewendung.
Das ständige Kommunizieren eines Vielleichts – und: ein Balanceakt, auf den sich Ägypterinnen meisterhaft verstünden, so Strohmenger. "In dem einen Moment, wo sie dir eine Zigarette reichen, streichen sie dir wie zufällig über den Finger, und in dem Moment, wo du der Berührung hinterher schaust, zeigen sie dir die kalte Schulter." Für Ägypterinnen ist tuql eine Pflicht; kompliziert, aber es funktioniert und: ist kulturell überaus geschätzt, bei Männern wie bei Frauen.
Andere Geschwindigkeiten
Der Ethnologe von der Uni Halle hat sich auch mit anderen strukturellen Eigenheiten ägyptischer Liebe befasst, unter anderem mit ihrer Geschwindigkeit. "Die einzig legitime Form einer Beziehung für Kopten wie Muslime ist die Ehe", sagt Strohmenger. "Was macht man also in der Zeit davor? Gemeinsam in den Urlaub fahren – geht nicht. Eine Wohnung nehmen – geht nicht. Sobald es zum ersten Kuss gekommen ist, steht die Heiratsfrage am Tapet."
Und dann kommen erst die richtig großen Fragen: Sind die Familien einverstanden? Ist das Studium absolviert? Gibt es genug Geld? – Intuitiv spüren die jungen Leute um diese Rattenschwanz-Problematik, weswegen die Phase vom Zeitpunkt des Kennenlernens bis zu einem verbindlichen Kuss weit länger dauert als im Westen.
Und das wiederum wirkt sich auf die Natur der Beziehung aus: Mango-Juice im Coffeeshop, verstohlene Berührungen und sehnsuchtsvolle SMS – so gestaltet sich oft die ägyptische Zweisamkeit: Als "schwärmerische Fernliebe, die alle Möglichkeiten des Traums enthält und sich nicht an der realen Begegnung abstößt", bezeichnet es der Schweizer Ethnologe Kreil. Sein Kollege aus Deutschland nickt. Aus westlicher Sicht, sagt Strohmenger, seien es Prä-Liebesbeziehungen. Wenngleich mit einem interessanten Charakteristikum.
"Erzähl mir doch ein bisschen von deinen Liebesbeziehungen", bat ihn einmal ein 27-jähriger Augenarzt aus Kairo. Als Strohmenger ihm berichtete, nickte der Augenarzt unaufhörlich mit dem Kopf und sagte: "Ja! Genau so war es bei mir auch!" Strohmenger war irritiert und fragte ihn: "Was war genau so? Du hattest doch nie eine Beziehung!" Worauf der junge Arzt von einer Frau zu erzählen begann, mit der er für die Dauer eines ganzen Jahres Blicke ausgetauscht hatte – innige, sehnende, kühle, zurückweisende Blicke: alles war dabei, nur eine reale Begegnung nicht."Als er mir aber beschrieb, was er dabei empfand", schildert der Ethnologe, "erkannte ich, dass er recht hatte: Er durchlebte genau die gleichen Gefühle wie ich in meinen realen Partnerschaften."
Halal-Schlupfloch
Doch nicht jeder gibt sich mit Liebe aus der Ferne zufrieden. Es gibt auch jene, die sexuelle Beziehungen leben. Aufgrund der ihnen innewohnenden heimlichen Natur gibt es dazu zwar keine Statistiken, aber in den Medien seit langem als 'serious issue' tituliert, steigt die Zahl derer, die ihre Liaisons durch die sogenannte 'Urfi'-Heirat religiös legitimieren: eine standesamtlich nicht-registrierte Eheschließung, die auf einem informellen Stück Papier und unter Anwesenheit zweier Zeugen eingegangen wird – ein Schlupfloch in der Religion, durch welches unzählige Verbindungen hinter dem Rücken der Familien geschlossen wurden. Der Finne Schielke schmunzelt. "Die jungen Leute tun das, was sie wahrscheinlich schon immer getan haben. Nur fürchten sie sich jetzt mehr vor Gott."
Seit den 1970er Jahren hat der religiöse Konservatismus in Ägyptens Gesellschaft zunehmend Fuß gefasst: mehr islamische Bärte und Kopftücher hier, ostentativ zur Schau gestellte Kreuz-Tätowierungen an christlicher Arminnenseite und überfüllte Bibelrunden dort. Einerseits. Andererseits ist die Sehnsucht nach romantischen Zweierbeziehungen gestiegen: Betonung von Partnerschaftsaspekten zu Lasten des traditionellen Großfamilienkollektivs, was zählt ist 'happiness' und Selbstverwirklichung.
Ein Paradoxon? Nein, sagt Schielke, denn beide Religionen böten Platz dafür und zudem, ergänzt Kollege Kreil, hätten weder Kopftuch & Co. noch große Aussagekraft, da es in den letzten Jahren zu einer Banalisierung vieler religiöser Zeichen gekommen sei. "So wie bei jener jungen Frau", erzählt Kreil, "die ich kürzlich in Kairo gesehen habe: Sie trug einen Hijab, auf dem ein aufreizendes Pin-Up-Girl mit Kussmund abgebildet war, darunter die Aufschrift Please love me!"
Was bleibt, ist il-hubb – die Liebe. Auch wenn das Land schon lange mehr durch seine Politik als durch seine Liebe von sich reden macht, ist sie da. Kompliziert, aber immerzu, unentwegt, allerorts: im Nildelta beim jungen Dorfbewohner, der gefragt hatte, ob es im Westen Liebe wie in Ägypten gibt, beim unglücklichen Bankangestellten aus Kairo mit seinen zwei Mobiltelefonen oder aber der 21-jährigen Mona Sadek, die einmal meinte: "Niemand kann die Bedeutung von Liebe definieren. Die exakte Bedeutung von Liebe. Niemand hat das je getan und niemand wird das je tun."
Iris Mostegel
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