Hoffen auf die ''zweite Revolution''
Seit Ende November ist Ägypten in Aufruhr, und seit Beginn der Unruhen sind mittlerweile dutzende Tote und Tausende von Verletzten zu beklagen. Noch immer scheint das Militär entschlossen, an seiner Macht festzuhalten, die es nach der Abdankung Präsident Mubaraks im Februar dieses Jahres übernommen hat.
Die Gewalt – sowohl die vom November, als insbesondere in der Mohammed-Mahmoud-Straße gekämpft wurde, als auch die jüngste Eskalation vor dem Kairoer Kabinettsgebäude – wurde durch das Eingreifen des Militärs provoziert. Im November attackierten Soldaten ein friedliches Sit-in auf dem Tahrir-Platz und schlugen auf viele Demonstranten ein. Als andere Protestierende davon hörten, machten sie sich zum Tahrir-Platz auf, wo sie von den Kugeln des Militärs empfangen wurden.
Bilder von Leichen, die wie Abfall auf den Bürgersteig gekehrt wurden, mobilisierten schließlich Hunderttausende Demonstranten, die zu dem symbolträchtigen Ort strömten, doch nur wenige Mutige stellten sich zwischen die Polizei und die Sicherheitskräfte und wehrten sich mit Steinen gegen das Tränengas, die Molotow-Cocktails und die Kugeln, die unaufhörlich auf sie niederprasselten.
Chronik der Gewalt
Nachdem das Militär in der Mitte der Straße eine Mauer errichtet hatte, um den Konflikt zu beenden, verlegten die Demonstranten ihr Sit-in zum Kabinettsgebäude, nur ein paar Häuserblocks entfernt vom Tahrir-Platz.
Dort errichteten sie ein provisorisches Zeltlager und forderten den Rücktritt der Übergangsregierung. Stattdessen aber sperrte das Militär das Gelände ab, führte einen Demonstranten ab, schlug und folterte ihn, bevor die Zelte von ihnen angegriffen und abgebrannt wurden.
Die Protestierer marschierten auf der breiten Qasr el-Aini-Straße hinunter bis zum Kabinettsgebäude und erst als sie vom Militär aus den oberen Stockwerken des Gebäudes mit Steinen und anderen großen Gegenständen beworfen und mit Gummigeschossen sowie mit scharfer Munition beschossen wurden, kam es zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen. Diese dauerten fünf Tage und forderten 17 Menschenleben und Hunderte Verletzte.
Damit erlebten die brutalen Aktionen des Militärs ihren einstweiligen Höhepunkt, und das nachdem die Armee nach ihrer Machtübernahme im Februar noch versprochen hatte, nicht länger als sechs Monate im Amt zu bleiben, um den demokratischen Wandel zu überwachen. Das war vor elf Monaten.
Die Wahlen nahmen ihren vorgesehenen Gang, während Familien ihre Angehörigen zu Grabe tragen mussten und das Militär auf einer Abfolge der Ereignisse beharrte, die der Realität ebenso Hohn spricht wie jeder Aufrichtigkeit. Der vergangene Monat hat vielen Ägyptern vor Augen geführt, dass der neue Diktator wohl um nichts besser ist als der alte.
George Ishaq ist besorgt. Der bekannte Oppositionspolitiker aus den Tagen der "Kifaya"-Bewegung fürchtet, dass mehr und mehr Ägypter getötet werden, da die Proteste anhalten und das Militär sich einzig auf die Gewalt verlässt, um den Unruhen Herr zu werden. "Ich glaube, dass die Aktivisten, die im Januar und Februar kämpften und ihr Leben verloren, es für Veränderungen taten, die bis heute nicht eingetreten sind."
Beauerlicherweise hat Ishaq recht. Zu viele Ägypter sind in den Händen der Regierung gestorben, seien es die Schläger Mubaraks gewesen oder die Kugeln der Militärjunta. Der Unterschied ist heute, dass die Demonstranten auf der Straße in den Augen der Öffentlichkeit nicht mehr für die Mehrheit der Ägypter sprechen.
Die schweigende Mittelschicht vom Tahrir-Platz
Kommentatoren sprechen bereits vom sogenannten "Tahrir-Graben", der sich aufgetan hat zwischen den "liberalen Aktivisten" einerseits und dem Rest der Bevölkerung sowie den islamischen Gruppen wie der Muslimbruderschaft und der salafistischen Al-Nour-Partei andererseits. Letztere gewannen den Löwenanteil der Stimmen in den ersten beiden Runden der Parlamentswahlen.
Doch diese Wahrnehmung ist falsch. Die Demonstranten auf der Straße, die Steine werfen und ihr Leben aufs Spiel setzen, bilden in ihrer Mehrheit keine Elite, sondern verkörpern eine bisher schweigende Mittelschicht.
Dafür reicht es, eine einzige Zahl genauer zu betrachten: 5.000. Dies ist die ungefähre Zahl von Demonstranten, die in den letzten anderthalb Monaten verwundet wurden. Das ist ein beträchtlicher Teil des harten Kerns der Protestierer, die normalerweise auch weiterhin auf den Straßen zu finden wären, doch müssen sich viele derzeit von ihren zahlreichen Blessuren erholen. Zudem wurde eine unbekannte Zahl von Demonstranten von der Polizei und den dem Militär inhaftiert.
Sie mögen zwar nicht die Mehrheit der Bevölkerung stellen, doch gab es bisher in keinem Land eine Bewegung, die die absolute Mehrheit der Bevölkerung für den Protest auf der Straße hätte mobilisieren können. Nur wenigen ist es möglich, die Last des "Mantels der Geschichte" zu tragen. Andere unterstützen den Wandel auf ihre Weise.
Für ein Ende der Militärherrschaft
In den letzten Wochen habe ich mit einer Reihe von jungen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren gesprochen, die in Cafés und Geschäften in der Kairoer Innenstadt arbeiten. Ihr Meinung zur gegenwärtigen Lage war einmütig: Sie unterstützen die Proteste und wollen, dass die Militärherrschaft ein Ende findet. Doch auch die entgegengesetzte Ansicht lässt sich auf den Straßen Kairos leicht ausfindig machen. Nicht wenigen wäre es recht, wenn endlich Ruhe einkehren würde und das Land zur Stabilität zurückfände Diesem Wunsch nach einer Rückkehr zu den Zuständen der Mubarak-Ära wird auch öffentlich Ausdruck verliehen.
"Niemand wurde auf der Straße getötet, als Mubarak noch Präsident war", erklärte mir etwa ein Taxifahrer, als wir über den Tahrir-Platz fuhren. Er war wütend auf die Demonstranten und beschuldigte sie, schuld an der Gewalt und an der Zerstörung seiner Stadt zu sein.
Tatsächlich ist es jedoch so, dass alljene, die glauben, dass die Demonstranten das eigentliche Übel der Gesellschaft darstellen, dem Militär und der von diesem gebrauchten Propaganda in den Staatsmedien auf den Leim gehen. Dort sind häufig die Tiraden der Generäle zu hören, in denen die Protestierenden bezichtigt werden, "mit exzessiver Gewalt" vorzugehen und "die Revolution und die Wirtschaft des Landes" zu zerstören.
Ahmed Aggour, ein junger Aktivist, der bisher an jeder Auseinandersetzung an vorderster Front beteiligt war, sieht hierin das Kern des Problems. Die Ägypter, sagt er, seien schlecht informiert. "Was wir brauchen, sind Veränderungen in der Medienlandschaft", so Aggour. "Den Menschen muss die Wahrheit über die politischen Vorgänge vermittelt werden, denn das Militär liefert ihnen meist nur Lügen, denen sie Glauben schenken."
Es ist immer schwierig, über die öffentliche Meinung in Ägypten zu diskutieren. Doch wie George Ishaq richtig erkannte, sei nunmehr die Zeit gekommen, um noch einen Schritt weiter nach vorne zu gehen. "Es wird eine Revolution geben - schon bald", so Ishaq.
Der 25. Januar 2012 – der erste Jahrestag des Aufstandes gegen das Mubarak-Regime – rückt näher und schon bereiten sich viele Ägypter unterschiedlichster Herkunft und politischer Couleur aus dem ganzen Land auf das vor, was sie schon jetzt "die zweite Revolution" nennen.
Es gibt also Hoffnung in Ägypten. Und auch wenn Kommentatoren die Aktivisten kritisieren, so sind diese doch die wahren Hoffnungsträger: die Demonstranten auf der Straße, Angehörige einer Mittelschicht, die 50 Jahre lang von der politischen Debatte ausgeschlossen wurde und sich nun darauf vorbereitet, die Revolution zu vollenden.
Joseph Mayton
© Qantara.de 2011
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Der amerikanische Journalist Joseph Mayton ist Chefredakteur der Website "Bikyamasr.com" in Kairo und berichtet regelmäßig aus Ägypten und dem Nahen Osten.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de