Konsens statt Konfrontation
Die Erfahrungen in Ägypten und Tunesien, die als Versuchslabor für die Annäherungen unterschiedlicher politischer Strömungen in den ersten drei Jahren der Arabellion dienten, zeigen, dass Islamisten und Säkulare sehr viel mehr trennt als eint.
Doch viel wichtiger ist noch, dass sich nun auch ihr wirklicher Schwachpunkt offenbart, nämlich die mangelnde Umsetzungsfähigkeit für ihre zuvor rhetorisch lautstark vorgetragenen demokratischen Absichten. Alle Akteure erklärten sich klar demokratisch gesinnt, trotzdem sind sie ausnahmslos bereits bei ihrem ersten Versuch kläglich gescheitert, diese Ziele auch zu erreichen.
So geschehen in Ägypten, wo die Muslimbrüder, die mit Hilfe der Linken und der Liberalen an die Macht gekommen waren, ihre Verbündeten vorführten, indem sie ihren Autoritarismus unter dem Vorwand einer "Diktatur der Wahlurnen" praktizierten. Bei der erstbesten sich bietenden Gelegenheit zögerten ihre Gegner unter den Linken und Liberalen als Reaktion hierauf dann auch nicht, mit den konterrevolutionären Kräften des alten Regimes gemeinsame Sache zu machen, um den politischen Gegner zu stürzen.
Das gleiche Spiel lässt sich ebenfalls in Tunesien beobachten, auch wenn dort der Machtkampf nicht so gewaltsam wie in Ägypten verlief: Als die islamistische "Ennahda"-Partei versuchte, der neuen tunesischen Verfassung die Grundzüge ihrer Gesellschaftsvorstellungen aufzuzwingen, fühlten sich Linke und Säkulare genötigt, mit den Überresten des gestürzten Regimes zu paktieren, um sich ihnen entgegenzustellen.
Ideologische Grabenkämpfe
Die mittlerweile drei Jahre währenden, verschiedenen politischen Zweckbündnisse, Krisenmomente und offenen Konfrontationen unter den bedeutendsten politischen Kräften haben eines deutlich gemacht, nämlich, wie groß der Graben und das Mistrauen zwischen ihnen immer noch sind.
Werden aber nun die Rückschläge in den Umbruchstaaten und die tieferliegenden Ursachen für die scheinbar unüberwindbaren Gegensätze zwischen den konkurrierenden Gruppierungen inzwischen reflektiert? Einige positive Ansätze gab es bereits: Alle Seiten scheinen begriffen zu haben, dass ein ausschließlich rhetorischer Diskurs nicht unbedingt der politischen Realität angemessen erscheint. Der größte Verlust ist der des verlorenen Vertrauens zwischen den politischen Kräften, der an der rauen Wirklichkeit zerschellte und dessen Wiederherstellung harte Arbeit durch Transparenz und ehrlichen Dialog erfordert.
Fehlende Konsenskultur und demokratische Kultur
Den größte Vertrauensverlust wurde dadurch verursacht, dass die verschiedenen Gruppierungen vorrangig Bündnisse eingingen, deren einziges verbindendes Element der Widerstand gegen die despotischen Regime ihrer Länder war, anstatt klare Konkurrenzbeziehungen auf der Grundlage politischer Programme zu schaffen.
Erschwert wird eine Verständigung ebenfalls dadurch, dass die verschiedenen Strömungen trotz ihrer grundverschiedenen gesellschaftspolitischen Konzepte letztlich um die gleichen Begrifflichkeiten, das gleiche Publikum und die gleichen großen Fragen streiten.
Hinzu kommt das offensichtliche Manko an demokratischer Tradition in den arabischen Gesellschaften, was sich in dem Vorherrschen der "Diktaturen der Mehrheit" nach dem Sturz der alten Regime niederschlug. Eine Kultur der Konsenslösung kam dagegen nach dem Ende der Diktaturen deutlich zu kurz. Die Erfahrungen in den arabischen Umbruchstaaten haben gezeigt, wie dringend demokratisch orientierte Integrationsfiguren benötigt werden, die als "Brückenbauer" zwischen den verfeindeten Lagern fungieren.
Schon vor dem Ausbruch der Revolutionen kannte das angespannte Verhältnis zwischen den unterschiedlichen politischen Akteuren gelegentliche Momente der Kooperation, insbesondere wenn die Repression der herrschenden Gewaltregime zu massiv war.
Dieser Dialog unter "feindlichem Feuer" eines "tiefen Staates", der derartige Bündnisse zu verhindern suchte, zeitigte auch positive Ergebnisse, die sich in der Folge wiederum auch auf die Entwicklung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Parteien auswirkten.
Tugend der Bescheidenheit
Für das "demokratische Experiment" in den Ländern des Arabischen Frühlings wäre es sicher positiv gewesen, hätten sich alle Seiten auf eine "Tugend der Bescheidenheit" besonnen, wie sie im "Realismus" der "Ennahda" in Tunesien zum Ausdruck kam.
Die fairen demokratischen Wahlen, die in Tunesien und Ägypten vor dem ägyptischen Militärputsch vom 3. Juli 2013 stattfanden, haben gezeigt, dass keine politische Kraft über eine ausreichende gesellschaftliche Mehrheit verfügte, um ihr jeweiliges Gesellschaftsmodell durchzusetzen.
Die Islamisten gewannen zwar die Wahlen nominell, verfügten jedoch nicht über die absolute Mehrheit in der ägyptischen Bevölkerung. Das Abschneiden der linken, säkularen und liberalen Kräfte ihrerseits zeigte eine deutlich die reale Schwäche auf, die in keinem Verhältnis zu ihrer starken Medienpräsenz stand. Mehr noch: Die raschen Umschwünge in den Kräfteverhältnissen ließen deutlich werden, wie schwach und fragil die Überzeugung der Linken, Liberalen und Säkularen von grundlegenden Werten wie Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit war.
Verlierer sind damit alle – Linke, Islamisten, Säkulare und Liberale, solange die wirkliche Veränderung, die der Wind des "Arabischen Frühlings" ankündigte, ausbleibt. Ein echter Wandel würde jedoch voraussetzen, dass sich alle Kräfte einer ernsthaften Selbstkritik und politischen Reflexion unterziehen.
Ferner wäre ein politischer und intellektueller Dialog zwischen den widerstreitendenden Gruppierungen dringend geboten – umso mehr, da sie ja mittlerweile begriffen haben dürften, dass ein wirklicher, demokratischer Wandel der Bemühungen aller Kräfte bedarf.
Die einzige Rhetorik jedoch, die jahrelang den politischen Dialog prägte, war die der Ausgrenzung des Gegners: Über lange Jahre eines erbitterten Kampfes hinweg versuchte jede Seite immer nur, sich von der anderen abzugrenzen.
Selbstkritik statt Ausgrenzung
Doch nach dem Putsch in Ägypten – und auch angesichts des ungewissen tunesischen Weges – haben inzwischen Aktivisten eben jener politisch einflussreichen Kräfte in Tunesien, in Marokko und in anderen arabischen Ländern sowie im Ausland lebende Ägypter ernsthaft damit begonnen, darüber nachzudenken, wie sich gemeinsam neue Spielregeln für einen transparenteren und ernsthafteren Dialog festlegen lassen könnten. Ein echter Dialog setzt allerdings voraus, dass alle beteiligten Parteien in der Lage sind, ihr Gedankengut und ihre politische Programmatik weiterzuentwickeln und zeitgemäßer zu gestalten.
Auch in Marokko, wo die ersten Schritte für einen solchen Dialog bereits getan wurden, ist der Weg noch lang und steinig, denn jeder ernsthafte Dialog muss mit einer Einigung auf grundlegende demokratische Prinzipien als gemeinsamer politischer Nenner beginnen. Diese Regeln müssen als Instrumente der Streitschlichtung akzeptiert werden, um Grundbedingungen für die Wahrung des gesellschaftlichen Friedens zu schaffen.
Um den Konflikt von vorneherein möglichst zu minimieren, muss auch die Zivilgesellschaft in den Dialog miteinbezogen werden, wie in Tunesien geschehen, wo gewerkschaftliche und bürgerschaftliche Organisationen als Schiedsrichter, Vermittler und "Retter in der Not" fungierten, um massive politische Auseinandersetzungen während der Erarbeitung der neuen Verfassung zu überwinden.
Die Schaffung dieser Grundbedingungen erscheint zwingend notwendig. Denn wer würde letztlich von den Grabenkämpfen der verschiedenen Kontrahenten profitieren? Niemand anderer als dieselben alten Kräfte, die alles daran setzen, alle anderen aus dem Weg zu räumen, um erneut die arabischen Völker totalitär zu beherrschen und ihre Geschicke zu lenken.
Ali Anouzla
Aus dem Arabischen von Nicola Abbas
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de