Wenn die Gewalt zurückkehrt
Nach dem Frankreich, Großbritannien und auch Deutschland ihren Einsatz gegen den IS bekräftigt haben ist mit einer Intensivierung des militärischen Konflikts in Syrien zu rechnen. Inwiefern schlägt sich dieser "Krieg gegen den Terror" auch in der Rhetorik der politischen Vertreter nieder?
Arun Kundnani: Dem "Krieg gegen den Terror" lag das Versprechen zugrunde, die "da drüben" zu töten, bevor sie uns töten. Die massive Gewalt im Irak, in Afghanistan, in Pakistan, in Palästina, im Jemen und in Somalia dient dieser Logik nach dem Frieden im Westen. "Die Ermächtigung zur Anwendung militärischer Gewalt", die der US-Kongress nach 9/11 erteilte, erklärte bereits die ganze Welt zum Schlachtfeld im "Krieg gegen den Terror". Noch heute stützt sich US-Präsident Obama auf diese Ermächtigung und verleiht seinem drohnengestützten Tötungsprogramm so den Anstrich der Legalität. Das entspricht der alten Kolonialauffassung von den heimischen liberalen Werten, gestützt durch einen versteckten Illiberalismus in der Ferne, wo außergesetzliche Tötungen daher als normal gelten.
Wir alle wissen, dass der "Krieg gegen den Terrorismus" mehr Zivilisten als Terroristen tötet. Und doch tolerieren wir ihn. Denn es sind nicht unsere Zivilisten, sondern "deren" Zivilisten, die wir irgendwo in der Ferne verorten. Doch die Kolonialgeschichte lehrt uns, dass die Gewalt stets in irgendeiner Form heimkehrt: Ob als Flüchtlinge auf der Suche nach Schutz, ob als Re-Import autoritärer Praktiken, die sich im kolonialen Umfeld bewährt haben, oder eben als Terrorismus. Diese Muster leben derzeit in neuer Form auf.
Muslimischen Bürgern in westlichen Staaten wird damit eine schwere Bürde auferlegt: Sie werden eingeteilt in Gemäßigte oder Extremisten, in gute oder in schlechte Muslime. Ständig sollen sie sich erklären: "Hast du dich von deinen Verbindungen zu jenen fernen Gewaltzonen losgesagt oder holst du uns die Gewalt in den Westen?" Doch ganz so direkt wird diese Frage nicht gestellt. Ihr wird vielmehr das kulturalistische Mäntelchen verpasst. Nach dem Motto: "Erkennst du unsere westlichen Werte an?"
Für die Öffentlichkeit hat das eine verheerende Signalwirkung: Jeder Muslim, der sich nicht den Loyalitätsritualen für die westliche Kultur unterwirft, gilt als verdächtig. Mittlerweile verortet der IS diese Muslime in der "Grauzone" zwischen westlichem Imperialismus und Anspruch auf ein wiedererrichtetes Kalifat.
Das führt auf beiden Seiten zu einer wechselseitigen Verstärkung einer militarisierten Identität: Die Dschihadisten verweisen auf die zahlreichen Reden westlicher Staats- und Regierungschefs und untermauern damit ihre These vom angeblichen Krieg gegen den Islam. Und die westlichen Staats- und Regierungschefs legitimieren den Krieg mit dem Hinweis auf einen Konflikt zwischen westlichen Werten und islamischem Extremismus. Auffällig dabei ist die abgedroschene Rhetorik der militärischen Aggression. Frankreichs Präsident Hollande bemüht erneut das Bild vom "schonungslosen Krieg" – einem Krieg, der ganz offensichtlich seit 14 Jahren ohne Erfolg geführt wird.
Woher kamen die IS-Terroristen in Paris? Können gängige Radikalisierungstheorien die Beweggründe ihres mörderischen Handelns erklären?
Kundnani: Von Think-Tanks, Geheimdiensten und regierungsnahen akademischen Institutionen entwickelte Radikalisierungstheorien gehen bisher oft von falschen Annahmen zur Erklärung der dschihadistischen Gewalt aus. Erstens sehen sie einen gravierenden Unterschied zwischen der "islamischen" Gewalt und anderen Formen der politischen Gewalt. Die Geschichte der politischen Gewalt des 20. Jahrhunderts – insbesondere in kolonialen Kontexten – wird hier einschließlich ihrer Lehren ausgeblendet. Zweitens sehen sie in einer Form der islamischen, der religiösen Ideologie den wesentlichen Grund dafür, weshalb jemand zum Terroristen wird. Einige Fachleute verweisen zwar auf sogenannte "gefühlte Benachteiligungen" oder auf emotionale Krisen, doch die Ideologie gilt weiterhin als Hauptursache.
Empirisch lassen sich diese Annahmen jedoch nicht belegen. Man denke an europäische IS-Freiwillige, die in Syrien mit einem Exemplar von "Islam für Dummies" eintreffen, oder an Abdelhamid Abaaoud, den mutmaßlichen Kopf der Pariser Terrorangriffe, der angeblich Whiskey getrunken und Cannabis geraucht haben soll.
Dennoch sind diese Radikalisierungstheorien offiziell anerkannt und weit verbreitet. Warum? Weil sie Überwachungsmaßnahmen rechtfertigen. (Denn für Polizei und Geheimdienste ist es einfacher, Ideologen als Terroristen zu finden.) Auch lässt sich so der Kreislauf der Gewalt besser leugnen, in dem wir uns bewegen.
Dabei steht die Gewalt im "Krieg gegen den Terror" in einem Zusammenhang, den die Radikalisierungstheorien ignorieren. Wir reden uns ein, unsere militärische Gewalt auf den Terror sei rational, reaktiv und normal. Wohingegen die Gewalt der Anderen fanatisch, aggressiv und anomal ist. Doch auch wir werfen Bomben auf Kinder, Krankenhäuser und Journalisten. Eine vollständige Analyse der Radikalisierung muss auch unser eigenes Tun hinterfragen. Wir sind heute bereit, in größeren Kontexten Gewalt anzuwenden – von der Folter über Drohnenangriffe bis hin zu Stellvertreterkriegen.
Es ist nicht so sehr die religiöse Ideologie, die dem IS Freiwillige zuführt, sondern die Vorstellung eines Krieges zwischen dem Westen und dem Islam. Es ist eine Erzählung von zwei Identitätspolen in einem weltweiten Kampf: Hier Wahrheit und Gerechtigkeit, dort Lügen, Verderbtheit und Korruption.
Diese fanatisierten Freiwilligen sind nicht durch die Ideologie korrumpiert, sondern durch das Ende der Ideologie: Sie sind in der Ära von Francis Fukuyamas "Das Ende der Geschichte" aufgewachsen – in einer Zeit, die keine Alternativen zur kapitalistischen Globalisierung vorsah. Sie kennen keinen kritischen Diskurs, nur Verschwörungstheorien. Und die Apokalypse hat für sie mehr Reiz als der Volksaufstand. Trotz fehlender politischer Inhalte ist das Credo vom globalen Kampf gegen den Westen für ihre Anhänger mitunter wie eine Antwort auf die Gewalt durch Rassismus, Armut und Hegemonie.
Wie reagieren die westlichen Intellektuellen auf die Anschläge von Paris?
Kundnani: In meinem Buch The Muslims are Coming! lege ich dar, dass es unter Entscheidungsträgern, Wissenschaftlern und Ideologen des "Krieges gegen den Terror" zwei Erklärungen für den "islamischen Extremismus" gibt: Konservative betrachten den Islam als eine aus sich heraus gewalttätige Kultur. Liberale sehen das Problem in einer totalitären Pervertierung des Islams, die sich erst im 20. Jahrhundert entwickelt hat.
Diese beiden Denkweisen werden auf anderer Ebene miteinander verzahnt, woraus ein flexibler und adaptiver Diskurs des "Muslim- oder Islam-Problems" entsteht.
Mit der intellektuellen Reaktion auf die Pariser Terrorangriffe setzt sich dieses Muster fort. Dominantes Merkmal ist ein Narzissmus, der den IS schlicht als Gegenpol zu unseren eigenen Werten beschreibt. Für Liberale ist der IS intolerant, rassistisch und frauenfeindlich. Für Konservative ist der IS der ideale Feind: fanatisch, nicht-westlich und barbarisch. Folgt man dieser Logik, reduziert sich der IS auf das absolut "Andere", das uns wiederum dazu befähigt, ein positives Bild von uns selbst zu schaffen.
Ein gutes Beispiel hierfür gibt der britische Komiker John Oliver in seiner populären Verspottung des IS nach den Pariser Attentaten. Die Dschihadisten hätten in einem Kampf der Kulturen mit Frankreich keine Chance, so Oliver. "Führt eure bankrotte Ideologie ins Feld. [Die Franzosen] halten dagegen mit Jean-Paul Sartre, Edith Piaf, edlen Weinen, Camus und Camembert." Dabei wusste Sartre sehr genau, wie gedankliche Schwarz-Weiß-Malerei der kulturellen Identitäten die verborgenen Kausalketten maskiert, die die Barbarei mit der Zivilisation verbinden. "[...] nichts ist konsequenter als ein rassistischer Humanismus", schrieb er, "weil der Europäer nur dadurch sich zum Menschen hat machen können, dass er Sklaven und Monstren hervorbrachte."
Daraus folgt, dass man den IS als Symptom der "normalen" Funktionsweise der Moderne, des globalen Systems, sehen sollte, statt als externes Element, das das System von außen oder aus der vormodernen Zeit heraus zerstört. Die Nutzung sozialer Medien, die Missachtung nationaler Grenzen des 20. Jahrhunderts und die Beziehungen zur Ölwirtschaft belegen es: Der IS ist ein Kind der Globalisierung.
Zwar ist der IS ganz sicher ein Monster – aber eines, das wir selbst hervorgebracht haben. Geboren wurde es im Chaos und Gemetzel nach dem Einmarsch in den Irak 2003. Die sektiererische Ideologie und die finanziellen Mittel steuern die regierenden Eliten der Saudis und der Golfstaaten bei. Und diese sind in der Region die engsten Verbündeten des Westens – nach Israel. Auch Russland und der Iran spielen eine bedeutende Rolle, indem sie das Regime von Baschar al-Assad unterstützen – ein Regime, das für weit mehr getötete Zivilisten verantwortlich ist als der IS. So verlängern sie den Krieg in Syrien, der dem IS den Nährboden bereitet. Die im Kampf gegen den IS erfolgreichsten Gruppen – nämlich die kurdischen Milizen – werden hingegen noch immer als Terroristen gebrandmarkt, da sie als Bedrohung für die mit uns verbündeten Türkei gelten.
Wie sollte eine konstruktive und gestalterische europäische Politik in der Region nach den jüngsten Terroranschlägen von Paris aussehen?
Kundnani: Selbstverständlich sollten die Ideologie des IS und dessen Vorgehensweise konsequent bloßgestellt und verurteilt werden. Gründe gibt es genug: Unterdrückung der Frauen, Versklavung von Minderheiten, Entzug der Freiheiten usw. Doch dies allein aus der Perspektive eines globalen Konflikts zwischen liberalen Werten und islamischem Extremismus zu verfolgen, führt nur in die Sackgasse einer militarisierten Identitätspolitik.
Wir sollten uns nicht davon abhalten lassen, den mit zweierlei Maß gemessenen "Krieg gegen den Terror" und dessen Widersprüche zu kritisieren. Doch damit nicht genug. Westliche Intellektuelle müssten viel deutlicher darauf hinweisen, dass nur eine antirassistische und antiimperialistische Politik eine echte Alternative zum Dschihadismus sein kann.
Der Philosoph Walter Benjamin hat einmal gesagt, hinter jedem Faschismus verberge sich eine gescheiterte Revolution. Das Gleiche gilt für den Terrorismus: Es gibt den IS, weil die arabischen Revolutionen von 2011 gescheitert sind.
Strategien zur Terrorismusbekämpfung und insbesondere eine Politik wie sie derzeit Großbritannien mit seiner Counter-Extremism Strategy verfolgt, gefährden demokratische Freiräume aller Bürger. Sie bieten keine grundsätzliche Lösung des Problems. Auch müssen wir die Luftschläge einstellen, die nur den Kreislauf der Gewalt weiter anfachen und die Argumentationskette des IS von einem Krieg des Westens gegen den Islam stützen. Auch sollten wir die Unterstützung von Regimen einstellen, die den IS stark gemacht haben, insbesondere die saudische Elite, die in der Region den wohl reaktionärsten Einfluss ausübt. Und schließlich müssen wir die Flüchtlinge schützen. Nicht nur, weil sie Opfer sind, sondern auch, weil sie unser bisheriges Versagen verkörpern.
© OpenDemocracy 2015
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers