Die Stimme der Westsahara
Die Sahrauis wurden zu Opfern der Entkolonialisierung Nordafrikas. Der Westsahara-Konflikt begann nach dem Rückzug der ehemaligen Kolonialmacht Spanien aus Nordafrika. 1975 wurde das Gebiet der heutigen Westsahara größtenteils von Marokko und Mauretanien annektiert, allerdings ohne die dort lebenden Sahrauis zu konsultieren, die bereits während der Kolonialzeit für ihre Unabhängigkeit gekämpft hatten. Die anschließenden Kämpfe zwischen Marokko und der sahrauischen Befreiungsbewegung Frente Polisario veranlassten Hunderttausende Sahrauis zur Flucht nach Algerien. Dort leben viele von ihnen bis heute in Flüchtlingslagern.
Wie andere Staatenlose musste auch Aziza Brahim ins Ausland gehen, um ihre Ausbildung abzuschließen und Arbeit zu finden. Zum Studium reiste sie nach Kuba. Heute lebt sie in Barcelona, Spanien. Doch egal, wo sie ist, sie bleibt ihrem Volk und dem Land, in dem sie geboren wurde, verbunden.
Ihr erstes Fenster zur Welt war das Radio ihrer Großeltern. Der Titel des Albums Mawja, "(Radio)Welle", ist als Hommage an diese Erfahrung zu verstehen. Den Großeltern brachte das Radio die Musik der Welt ins Flüchtlingslager. Jetzt nutzt Aziza Brahim es, um der Welt ihre Geschichte zu erzählen.
Klangcollage
Brahims Musik ist eine Klangcollage, in der sie sowohl ihre persönliche Geschichte als auch die Musik, die sie als Kind im Radio hörte, verarbeitet. Das erklärt auch, warum sich afro-kubanische Elemente mit spanischer Gitarre und Desert Blues vermischen.
Überraschend ist, dass sie sich von der britischen Punkband "The Clash" beeinflussen ließ und ihren Schlagzeuger vor der Aufnahme von "Metal, Madera" (Metall, Holz) bat, sich ihren Lieblingssong dieser Band anzuhören.
Ein harmonisches Ganzes
Überraschend ist auch, wie sich diese heterogene Collage von musikalischen Einflüssen zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügt. Brahim wird dabei von Musikern unterstützt, die diese Aufgabe mit Bravour meistern. Ihr Gesang, ihr Spiel auf der spanischen Gitarre und der Perkussion sind ebenso virtuos und anmutig wie das ihrer Mitmusiker.
Guillem Aguilar steuert Bass, akustische und elektrische Gitarre und Mandola bei. Ignasi Cusso spielt ebenfalls beide Gitarrenarten und Alexian Tobias und Andreu Moreno teilen sich die Aufgaben am Schlagzeug. Moreno war es auch, der sich für die Aufnahme von "Metal, Madera" zunächst "The Clash" anhören sollte.
Die Musik des Ensembles bildet den perfekten Rahmen für Brahims bewegende und berührende Texte. Die Lieder des Albums handeln sowohl von ihrer persönlichen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als auch von derjenigen ihres Volkes. Oberflächlich betrachtet mögen die Texte trügerisch eingängig erscheinen. Doch in Verbindung mit der Musik der Band schwingt eine tiefere Bedeutung mit.
Im Lied "Bein trab u lihjar" (dt. "Zwischen Steinen und Sand") heißt es beispielsweise: "Ich erinnere mich an meine Kindheit, als ich zwischen Lehm und Steinen spielte, zwischen Sand und Steinen". Im Kontext ihrer persönlichen Geschichte, begleitet von ihrer Stimme und Musik, erscheint vor unserem inneren Auge ein kleines Kind inmitten einer unwirtlichen Umgebung. Wir denken an die Lebensumstände in einem Flüchtlingslager und wie es gewesen sein muss, unter solchen Bedingungen aufzuwachsen.
Im Lied "Bubisher" sehen und hören wir, wie Brahim ihre internationale musikalische Ausbildung liebevoll mit ihrem sahrauischen Erbe verwebt. Der Bubisher ist ein sagenumwobener Vogel, der als Glücksbringer gilt, weil er immer gute Kunde bringt. "Wir danken Gott / der Bubisher ist hier / er kam, um zu singen / und uns / gute Nachrichten zu bringen / Bubisher der Sage / des Bildes und des Gedankens."
Befreiungslyrik
Während der Text an die Traditionen ihres Volkes anknüpft, wiegt und schwingt sich das Lied musikalisch zu den Klängen spanischer Gitarren und afro-kubanischer Perkussion. Brahim selbst ist das Bindeglied zwischen den beiden Welten. Sie vermittelt uns die Botschaft und die Geschichte ihres Volkes in einer musikalischen Sprache, die wir beherrschen. Wenn wir ihre Stimme hören und die Kraft der Musik spüren, können wir die Aura des geheimnisvollen Bubisher fühlen, auch wenn wir die Sprache, in der Brahim singt, nicht verstehen.
Leider müssen die Sahrauis heute ohne magische Vögel auskommen, die sie aus ihrem Zustand der Staatenlosigkeit befreien könnten. Sie werden ihr Land nicht zurückerhalten, ohne dafür zu kämpfen. In "Haiyu ya zawar" (dt. "Ein Hoch auf die Revolutionäre") ruft Brahim ihr Volk auf, den Kampf um Unabhängigkeit fortzusetzen.
Die Musik basiert auf akustischen Instrumenten und Perkussion, aber der Rhythmus hat eine Schärfe, die die Botschaft des Liedes unterstreicht. Brahims Gesang ist weiterhin sanft und melodisch. Aber jetzt hören wir auch seinen metallischen Kern. Er kommt aus jenem Teil von ihr, der sich von den Klängen von "The Clash" und deren Forderung nach sozialer Gerechtigkeit begeistern ließ.
Kaum jemand weiß von den Sahrauis und ihrer Lage. Wie andere Vertriebene haben sie kaum eine oder gar keine Stimme auf der Weltbühne und stehen im Schatten größerer und populärerer Bewegungen.
Mit Mawja verleiht Aziza Brahim ihrem Volk zumindest eine Stimme. Sie singt von Hoffnungen und Träumen, von der Vergangenheit und der Gegenwart und von dem, was in der Zukunft möglich ist. Ihre sanfte, melodiöse Stimme hat die Anziehungskraft der besten Soulsängerinnen und die Eleganz von Jazz-Größen wie Billie Holiday.
Zusammen mit der Kraft der Musik ihrer Band zieht sie uns förmlich in ihre Realität hinein. Mawja ist ein wundervolles, leidenschaftliches Album. Es sollte nicht nur wegen seiner künstlerischen, sondern auch wegen seiner gesellschaftspolitischen Bedeutung gehört werden.
© Qantara.de 2024