Was vom Frühling übrig blieb
Sein Tod verändert die arabische Welt. Am 17. Dezember 2010 übergießt sich Mohamed Bouazizi, 26 Jahre alt, mit Benzin und setzt sich mit einem Feuerzeug in Flammen. Am helllichten Tag in Sidi Bouzid, einer Stadt im Inneren Tunesiens. Der Gemüsehändler erträgt sein Leben nicht mehr: keine Chance auf eine feste Arbeit, trotz Abitur, dazu endlose Schikanen der Polizei. Er stirbt am 4. Januar. Zehn Tage später treiben die Tunesier Zine el Abidine Ben Ali aus dem Land. Den Mann, der sich Präsident nennt, aber ein Diktator ist und Tunesien 23 Jahre lang ausgebeutet hat. Erst geht die Jugend auf die Straße, Studenten, Absolventen, dann das ganze Volk, vom Arbeiter bis zum Anwalt.
Von Tunesien aus springt der Funke der Revolte über, die Arabellion, der Arabische Frühling, beginnt, auch Ägypten schüttelt seinen Despoten ab. Die Welt staunt. Syrien und Libyen wollen dem Beispiel folgen, sie straucheln, versinken in Bürgerkrieg und Chaos. Auch Ägypten scheitert und verwandelt sich zurück in einen Polizeistaat, schlimmer als einst unter Mubarak.
Nur Tunesien rettet den Arabischen Frühling, baut eine Demokratie auf mit moderner Verfassung, erhält 2015 den Friedensnobelpreis. So sieht der Westen das Land. Aber wie sieht es von innen aus – was blieb vom Frühling? Wie geht es heute der Jugend, den Studenten, den Absolventen, denen, die alles ins Rollen gebracht, die Würde, Freiheit, Arbeit gefordert haben?
Imen Taleb wartet in einem Café an der Avenue Bourguiba, einem breiten Boulevard mit einer von Bäumen gesäumten Promenade in der Mitte, pfeilgerade führt er von der verwinkelten Altstadt vorbei am Innenministerium. Hier demonstrierten im Januar 2011 Zehntausende, so lange, bis Ben Ali am 14. Januar in einem Flugzeug aus dem Land flüchtete.
Die Straßencafés mit ihren runden Bistrotischen, die Fassaden, vieles im Zentrum von Tunis wirkt sehr französisch. Imen Taleb ist 32 Jahre alt, sie trägt ein dünnes orangefarbenes Kopftuch locker um den Kopf gebunden und eine rote Regenjacke. Der Himmel über Tunis kann sich Ende November schnell mit Wolken füllen.
Die Parolen der Revolution kann sie noch auswendig, auch wenn sie bei den ganz großen Demonstrationen nicht dabei war: "Hubs wa ma, Ben Ali la", ruft sie über den Kaffeehaustisch. "Brot und Wasser, aber ohne Ben Ali". Ein wenig Bitterkeit klingt in ihrer Stimme mit.
Hochschulabsolventen sind ohne Job
Imen wollte einmal Deutschlehrerin werden, sie hat ihr Abitur in El Guettar gemacht, einer kleinen Stadt nicht weit entfernt von Sidi Bouzid. Nach vier Jahren Studium fand sie keine Stelle. Weder an der Uni noch an der Schule. "Natürlich nicht", sagt sie, als wäre es selbstverständlich: Sie hatte ja keine Beziehungen, kein Geld für Bestechung. Sie zog nach Tunis zu ihrer Schwester, machte ihren Master, fand wieder keine Stelle. Wie so viele hat sie in einem Callcenter gearbeitet, ein Jahr lang, für fünf Dinar die Stunde, das sind keine 2,50 Euro. Es sei eine verlorene Zeit gewesen, sagt sie. Manchmal fühlte sie sich kraftlos, machtlos. Viele ihrer Kommilitonen gaben auf und begnügten sich mit dem Callcenter. Imen Taleb kämpfte weiter, hatte Forschungsaufenthalte in Kassel, Deutsch geht ihr seitdem noch leichter von den Lippen, gelegentlich hat sie Lehraufträge an einer Universität in Tunis. Jetzt schreibt sie an ihrer Doktorarbeit und hofft auf eine feste Stelle in der Wissenschaft.
"Am Ende haben wir nichts gewonnen", sagt sie. Dann, nach einer Pause, "immerhin, die Freiheit". Sie lächelt. Man darf wieder über Politik und Religion sprechen, auf der Straße, an der Universität. Bleibt denn noch Raum für Stolz, auf das, was Tunesien geschafft hat – einen Diktator abgeschüttelt, kein Bürgerkrieg, eine moderne Verfassung? Wer einen festen Job habe, der sei stolz darauf, sagt sie, wer arbeitslos sei, nicht. Freiheit kann man nicht essen.
Taleb erzählt von ihrem jüngeren Bruder. Er studierte Französisch, auch er sollte Lehrer werden, seit 2010 hat er den Abschluss in der Tasche – und sucht nach Arbeit. Er wohnt noch bei seinen Eltern, einmal im Monat steigt er in den Bus und fährt die 350 Kilometer in die Hauptstadt, um Behörden, Schulen, Firmen abzuklappern. Vergebliche Fahrten, seit fünf Jahren.
30 Prozent der Hochschulabsolventen sind ohne Job. In den Provinzen im Landesinneren, immer noch vernachlässigt von der Politik, ist jeder zweite junge Akademiker ohne Arbeit. Es ist schlimmer als vor der Revolution. Heiraten und eine Familie gründen, davon träumen in dieser Generation viele nur.
Auf dem Campus der Universität La Manouba ist es ungewöhnlich ruhig. Die Fakultät der Geisteswissenschaften liegt am westlichen Rand von Tunis. Studentengrüppchen sitzen auf weißen Steinmauern in der Sonne, man plaudert. Stühle verstellen die Eingänge der zweistöckigen Fakultätsgebäude. Ein Studentenverband hat zum Streik aufgerufen, die meisten sind ihm gefolgt und wieder nach Hause gegangen. "Schon wieder", stöhnt Moez Maataoui, Sprachwissenschaftler und Dozent an der Manouba. "Es geht nicht um politische Forderungen, es geht nur um eine leichtere Prüfung, sie wollen weniger lernen."
Die Revolution hat ihre Kinder verloren
Maataoui hat jetzt viel Zeit, er lädt in die Mensa zum Couscous ein und skizziert nebenbei das kränkelnde Bildungssystem Tunesiens. Maataoui ist ein ernster Mann von 40 Jahren. In den ersten Tagen der Revolution hatte er sich nicht vorstellen können, dass Ben Ali gestürzt würde. Erst spät schloss er sich den Demonstrationen an. "Ich hatte Angst", erzählt er, "wie viele meiner Kollegen." Die Universitäten waren von Ben Alis Geheimdiensten durchsetzt, viele kritische Akademiker landeten im Gefängnis. Früher, sagt er, waren Schule und Universität ein Versprechen darauf, dass man es von unten nach oben schaffen kann. So wie er: Seine Mutter war Analphabetin, sein Vater hatte nur eine Koranschule besucht. Moez ging auf die Universität, bekam Stipendien, studierte in Heidelberg weiter und promovierte. Jetzt ist er auf dem Weg zum Professor, er forscht zur Sprache in der Diktatur.
Heute ist ein Studium für viele ein leeres Versprechen. Seit Ben Ali die Schule in den Neunzigern so vereinfachte, dass immer mehr Schüler das Abitur machen konnten, und seit der Staat allen Abiturienten ein kostenfreies Studium garantiert, geht es bergab mit der Qualität. Das störte den Herrscher nicht, lieber zu viele Studenten als zu viele Arbeitslose. Dass es am Ende auf dasselbe hinauslaufen musste, dass er eine Zeitbombe konstruierte, verdrängte er so lange, bis sie explodierte.
Der Unterricht in der Schule ist ungenügend, die Lehrer verdienen zu wenig – von 10.00 Dinar im Monat, 500 Euro, lässt sich kaum eine Familie ernähren. Viele Lehrer geben dafür teuren Nachhilfeunterricht und, weil der sich ja lohnen muss, anschließend gute Noten. An der Uni setzt sich das Spiel fort. Die Zahl der Studenten steigt, die Qualität der Lehre sinkt. 320.000 Studenten hat das 11-Millionen-Einwohner-Land, Jahr für Jahr drängen 40.000 Absolventen auf den überschaubaren Arbeitsmarkt – an den Bedürfnissen der Wirtschaft vorbei ausgebildet, mit einem Abschluss, der nichts wert ist.
Enttäuschte Jugend, siechende Wirtschaft, wachsender Terror
Dabei soll die Jugend treibende Kraft für den Aufbau der Nation sein: So steht es in der neuen tunesischen Verfassung in Artikel 8. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Präsident Béji Caïd Essebsi ist 89, im Wahlkampf sagte er zwar immer wieder: "Jugend ist ein geistiger Zustand, kein körperlicher." Er wolle Tunesien auf einen guten Weg bringen und dann an die Jugend übergeben. Allein, der Jugend fehlt der Glaube daran, sie fühlt sich nicht ernst genommen, in den etablierten Parteien konnte sie nicht Fuß fassen. Sie bleibt den Wahlen fern: Bei den Parlamentswahlen vor einem Jahr haben nur 12,5 Prozent der 18- bis 21-Jährigen teilgenommen. Eine Studie der Weltbank ergab: In den tunesischen Städten hat nur knapp ein Drittel der Jungen Vertrauen in das politische System, auf dem Land sind es weniger als zehn Prozent.
Die Demokratie ist gefährdet, auch durch den Terror. Tunesien ist spätestens seit den Anschlägen auf das Bardo-Museum im Frühjahr in Alarmbereitschaft. Am Tag der Terrorakte von Paris enthaupten radikale Islamisten an der Grenze zu Algerien einen Hirtenjungen, den Kopf legen sie seinen Eltern vor die Tür. Nur einige Hundert Meter von der Avenue Bourgiba entfernt explodiert am 24. November eine Bombe. Sie reißt zwölf Polizisten der Präsidentengarde in den Tod. Präsident Essebsi verhängt den Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangssperre.
Die Attentäter kommen nicht aus dem Ausland. Es sind junge Tunesier, die als einzigen Ausweg die Flucht in den radikalen Islamismus sehen. Fast fünftausend sollen sich dem IS in Syrien und im Irak angeschlossen haben, unter ihnen viele Studenten. Über zehntausend weitere sollen von den Sicherheitsbehörden an der Ausreise gehindert worden sein. Seifeddine Rezgui war 23 Jahre alt und Student der Ingenieurwissenschaften, als er am 26. Juni mit einer Kalaschnikow 38 Touristen am Strand von Sousse tötete. Die Perspektivlosigkeit und die Enttäuschung über die unvollendete Revolution machen die wütenden jungen Männer empfänglich für das Werben der Hassprediger.
Eine Ben-Ali-Nostalgie macht sich bemerkbar. Unter ihm hätte es diese Terroranschläge nicht gegeben, sagen viele. Und verdrängen die Korruption während seiner Herrschaft. Eine Studie der Weltbank hat vor wenigen Monaten die systematische Steuerhinterziehung der mit dem Ben-Ali-Clan verknüpften Firmen untersucht. Ergebnis: In den Jahren von 2002 bis 2009 entstand den öffentlichen Kassen ein Schaden von 1,2 Milliarden Dollar. Viele Gesetze begünstigten die Firmen des Herrscherclans, der 20 Jahre lang ein Fünftel der Gewinne abschöpfte, Konkurrenz und Wachstum verhinderte. Seitdem hat sich wenig verbessert. Die Tunesier haben ihren Diktator vom Hof gejagt, von seinem korrupten Wirtschaftssystem haben sie sich nicht befreit.
Enttäuschte Jugend, siechende Wirtschaft, wachsender Terror – so sieht Tunesien heute aus. Doch es gibt auch Hoffnungsschimmer. Wie die Informatikstudenten der École Nationale d’Ingénieurs in Tunis. Sie führen in einen kleinen Raum auf dem Campus, hier hat die Association Junior Enterprise ihren Sitz. Eine Studentenorganisation, die eine Brücke bauen will zwischen Campus und Berufswelt. Sie knüpfen Kontakte zu Unternehmen, organisieren Konferenzen. Ein Dutzend angehender Ingenieure, fast die Hälfte Frauen, drängt sich um einen Tisch voller Computer. Viel Energie ist zu spüren, einige wollen Start-ups gründen. Sie glauben noch an eine Zukunft in Tunesien. "Wir brauchen mehr Geduld, müssen hart arbeiten, dann wird es gut", sagen sie.
Kann es wirklich noch gut werden?
30 Prozent der tunesischen Hochschulabsolventen sind arbeitslos. Das liegt nicht allein an der schwachen Wirtschaft. Die Ausstattung vieler Universitäten sei mangelhaft, die Lehre zu theorielastig, die Studiengänge seien nicht berufsbezogen, sagt Beate Schindler-Kovats, Leiterin des DAAD-Büros in Tunis. Die meisten Uni-Absolventen sind nur auf dem Papier hoch qualifiziert.
Fathi Triki, 69 Jahre alt, Unesco-Lehrstuhl für arabische Philosophie, zweifelt daran. Er sitzt in einem Café in La Manar, einem Viertel, das sich in die Hügel über der Innenstadt schmiegt. Weiße Häuser mit gepflegten Gärten, schöner Meerblick. Triki beschreibt für Tunesien weniger erfreuliche Aussichten: Die Ben-Ali-Entourage finde den Weg zurück an die Schlüsselstellen der Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit steige immer weiter. Die Jungen würden das spüren und sich enttäuscht abwenden.
Und dann? Fathi Triki sagt: "Schafft die Regierung es nicht, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, erleben wir in fünf Jahren eine neue Revolution."
Arnfrid Schenk
© Zeit 2016