Musterschüler mit schwierigen Aufgaben
Die gefeierte Verabschiedung der neuen Verfassung zu Beginn des Jahres, die damit die progressivste Verfassung in der Region überhaupt ist, markiert den ersten Meilenstein auf diesem steinigen Weg zur Demokratie.
Die Inklusion verschiedenster politischer und sozialer Gruppierungen kennzeichnete von Beginn an die tunesischen Transformationsbemühungen. In den ersten Wochen und Monaten nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes waren die beteiligten Akteure schon vor der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung, der Assemblée Nationale Constituante (ANC) um eine möglichst breite Einbindung bemüht.
Zusammen widerstanden die politischen Akteure dann auch der Versuchung, schnelle Wahlen für ein neues Parlament oder gar eine Präsidentschaftswahl durchzuführen. Zuerst sollte man sich im Rahmen einer verfassungsgebenden Versammlung auf die Spielregeln für das politische System einigen.
Die Entkopplung des Verfassungsgebungsprozess von den Entscheidungswahlen um politische Ämter ist einer der bedeutendsten Unterschiede der tunesischen Transformation im Vergleich zu den Nachbarn Ägypten und Libyen. Die zeitliche und sachliche Trennung der Verfassungsgebung von der Einsetzung einer neuen politischen Führung gelang jedoch auch den Musterschülern in Tunis nur teilweise.
Da der Wahlkampf zur verfassungsgebenden Versammlung von den Parteien wie ein Wahlkampf zu einem neuen Parlament geführt wurde, kam es schlussendlich zu einer Politisierung der Verfassungsfindung. Aufgrund des zu eng kalkulierten Zeitplans musste die ANC, welche ursprünglich nur für die Dauer von einem Jahr konstituiert worden war, mehrmals verlängert werden.
Über den Zeitraum von drei Jahren übernahm die ANC mehr und mehr auch klassische parlamentarische Aufgaben wie die Verabschiedung von Gesetzen und die Kontrolle der Regierung. Nach mehreren Krisen, ausgelöst durch die Ermordung zweier prominenter Abgeordneter aus dem linken Parteienspektrum durch islamistische Extremisten, einigte man sich im ANC auf die Etablierung einer Technokraten-Regierung zur Vorbereitung der Wahlen.
Appell zur Deeskalation
Dem ANC gelang nach wachsendem Druck durch die Zivilgesellschaft und nach der Vermittlung durch die Gewerkschaften im Rahmen des nationalen Dialogs eine Einigung in Hinblick auf die neue Verfassung. Bemerkenswert im Umgang mit der politischen Gewalt durch Extremisten war, dass alle politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen gemeinsam zur Gewaltlosigkeit aufgerufen und damit deeskalierend auf die angespannte politische Situation im Land gewirkt hatten.
Die bevorstehende Ablösung der verfassungsgebenden Versammlung durch ein gemäß der neuen Verfassung gewähltes Parlament und die im November folgenden Präsidentschaftswahlen leiten die nächste Phase im tunesischen Transformationsprozess ein.
Tunesiens Demokratie hat Leuchtturmcharakter in einer arabischen Welt, die sich aus den erneut etablierten Autokratien zusammensetzt (Ägypten, Algerien, Bahrain, Jordanien) und den sich im Bürgerkrieg befindenden Ländern der Region (Libyen, Jemen, Syrien). Diese Entwicklung kann bei aller notwendigen kritischen Begleitung des Transformationsprozesses kaum hoch genug eingeschätzt werden.
Nichtsdestotrotz stellen die anstehenden Wahlen und die darauf folgende Regierungsbildung eine Art "Stresstest" für den tunesischen Transformationsprozess und die beteiligten politischen Eliten dar. Das etablierte semi-präsidentielle Institutionengefüge wird sich erst noch beweisen müssen. Dabei sind insbesondere die politischen Akteure gefragt: ihren Spielraum zu interpretieren und die im Verfassungsgebungsprozess errungene inklusive politische Kultur beizubehalten.
Tunesiens Jugend in der Krise
Trotz der Erfolge Tunesiens sind mehrere immanente Probleme noch nicht angegangen worden. Sozioökonomische Fragen, welche viele als den Hauptauslöser für die Proteste von 2011 ausmachen, sind aufgrund des Verfassungsgebungsprozess größtenteils aufs Abstellgleis geraten. Die Abnahme des Tourismus, die gesunkene Investitionsbereitschaft internationaler Akteure während des Transformationsprozesses haben in Kombination mit einem sinkenden EU-Handelsvolumen dazu geführt, dass die Jugendarbeitslosigkeit noch weiter zugenommen hat. Laut offizieller Statistik liegt die Arbeitslosigkeit bei Tunesiern unter 25 Jahren bei 40 Prozent. Der Jugend fehlt es an Perspektiven.
Was die Jugendarbeitslosigkeit zum gesamtgesellschaftlichen Problem macht, ist jedoch nicht die hohe Quote allein. Ein Blick auf die Demographie genügt, um zu erkennen, dass 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit in Tunesien einen deutlich größeren Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmachen als die 50-prozentige Arbeitslosenquote bei Jugendlichen in Spanien oder Griechenland. Und selbst höhere Auslandsinvestitionen oder ein ansteigender Tourismus werden dieses Strukturproblem wohl kaum alleine lösen können. Reformanstrengungen, um jungen Menschen den Einstieg in den Beruf zu ermöglichen, sind daher dringend erforderlich. Leider verfügt die jüngere Generation trotz ihrer bedeutenden Rolle während der Proteste von 2011 nach wie vor über keinen großen gesellschaftspolitischen Einfluss.
Darüber hinaus ist die zentrale politische Verteilungsfrage zwischen Zentrum und Peripherie immer noch ungeklärt. In einem weiterhin klassisch zentralistisch organisierten Institutionengebilde bleibt abzuwarten, ob die vernachlässigten Regionen im Inland in einem neuen politischen Umfeld künftig ein größeres Stück vom Kuchen abbekommen. Nicht ohne Grund begannen die Proteste im Dezember 2010 im ökonomisch vernachlässigten Inland Tunesiens, bevor sie ihren Weg in die Hauptstadt fanden.
Das Verfassungsgericht in der Schlüsselrolle
Ferner wird entscheidend sein, wie die zentrale, in der Verfassung angelegte und nicht abschließend geklärte Konfliktlinie um den Schutz der Religion vor Blasphemie mit dem Säkularitätsprinzip und vor allem der Meinungs- und Pressefreiheit verläuft. In dieser Sache wird dem neu etablierten Verfassungsgericht eine entscheidende Rolle in der Auslegung des Verfassungstextes zu kommen.
Die politischen Transformationsbemühungen haben sich bisher doch stark auf die nationale Ebene konzentriert. Auf der lokalen Ebene sitzen seit dem Sturz Ben Alis vor allem in den Rathäusern von Städten und Kommunen der ländlicheren Regionen seit nunmehr fast vier Jahren zum Teil immer noch alte Regimekader oder aber selbsternannte Revolutionskomitees.
Diese sind in der Regel nicht durch Wahlen legitimiert. Den Transformationsprozess systematisch auf die lokale Ebene zu übertragen und tatsächlich in den ländlichen Regionen zu verankern, darin besteht eine der vielen Herausforderungen der neuen Regierung in Tunis.
Der Sicherheitsapparat, der unter dem Ben-Ali-Regime insbesondere durch seinen Geheimdienst Angst und Schrecken verbreitete, wurde bisher von umfassenden Veränderungen ausgenommen. Eine Reform des Sicherheitssektors ist vor allem bei der Polizei und in den geheimdienstlichen Organisationen unbedingt notwendig, um das Vertrauen der Bürger in den Staat und seine exekutiven Ausführungsorgane herzustellen.
Herausforderungen des Dschihadismus
Dies scheint umso notwendiger, da Tunesien eine Vielzahl an sicherheitsrelevanten Gefahren zu begegnen hat. Offiziellen Angaben des tunesischen Innenministeriums zufolge haben sich inzwischen mindestens 2.600 tunesische Staatsbürger auf den Weg nach Syrien oder in den Irak begeben, um dort in den "Heiligen Krieg" zu ziehen. Davon sollen sich wiederum 80 Prozent dem IS angeschlossen haben.
Auch wenn bisher kein großer Rückstrom verzeichnet worden ist, lässt die Rückkehr militärisch erprobter und radikalisierter Dschihadisten nichts Gutes für die nationale Sicherheit Tunesiens erwarten. Darüber hinaus ist Tunesien aufgrund der Flüchtlingsströme aus Libyen, Mali, aber auch aus Syrien, weiterhin großen Belastungen ausgesetzt. Durch Waffenströme aus Libyen und Mali gerät das Gewaltmonopol des Staates in den Grenzregionen zunehmend unter Druck.
Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen Ende Oktober und Ende November sind für Tunesien eine erneute Bewährungsprobe. Auch beinahe vier Jahre nach dem Sturz des Ben-Ali-Regimes ist der Transformationsprozess nicht abschließend beurteilbar. Tunesien befindet sich noch inmitten einer Transition, die möglicherweise immer noch scheitern könnte.
Doch bislang kann man Tunesien zweifelsohne ein gutes Zeugnis für seine Transformationsleistungen ausstellen. Das kleinste Land Nordafrikas ist nicht nur der Ursprung der Protestbewegungen des Arabischen Frühlings, sondern geht auch in Hinblick auf den demokratischen Wandel in der Region mit gutem Beispiel voran.
Ilyas Saliba
© Qantara.de 2014
Ilyas Saliba ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) sowie Associate Fellow des EU-Middle East Forum bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Sein Forschungsschwerpunkt richtet sich vor allem auf die Stabilität der autokratischen Regime während der arabischen Aufstände von 2011.