Ein Mann der Tat
Der August-Allebé-Platz in Amsterdam-Slotervaart: Frauen in langen Gewändern, mit vollen Einkaufstaschen huschen vorbei und verschwinden in grauen Wohnblöcken. Die Fassaden sind übersät mit Satellitenschüsseln; auf den Balkonen flattert die Wäsche im Wind.
Die meisten der 45.000 Bewohner im Amsterdamer Stadtteil Slotervaart sind Migranten, vor allem aus Marokko. Bekannt wurde Slotervaart dadurch, dass mehrere Mitglieder der islamistischen Terrorgruppe "Hofstadgroep" dort aufgewachsen sind. Genau wie Mohammed Bouyeri, der Mörder des niederländischen Filmregisseurs Theo van Gogh.
Nach den letzten Kommunalwahlen im März 2006 wurde Ahmed Marcouch Bürgermeister Slotervaarts. Der 41-jährige Sozialdemokrat sorgt als erster muslimischer Bürgermeister in den Niederlanden immer wieder für Schlagzeilen.
Denn das softe und typisch holländische Auftreten der Behörden, die es immer im Guten versuchen und meistens bei Worten belassen, ist ihm ein Gräuel. Marcouch ist ein Mann der Tat und greift konsequent durch – womit er sich nicht nur Freunde macht.
"Der versucht, uns schlecht zu machen"
Vor einem türkischen Gemüseladen steht eine Gruppe lärmender marokkanischer Jugendlicher und verbringt die Schulpause. Sie bleiben unter sich, mit gleichaltrigen Niederländern haben sie kaum Kontakt.
"Einmal Marokkaner, immer Marokkaner!" meint einer der Jugendlichen. Auf ihren neuen Bürgermeister sind sie deshalb nicht gut zu sprechen. Ahmed Marcouch ist gebürtiger Marokkaner. Eine seiner ersten Maßnahmen: Er zitierte die Väter marokkanischer Problemjugendlicher zu sich ins Rathaus, um ihnen ins Gewissen zu reden – sozusagen von Muslim zu Muslim.
"Der versucht uns schlecht zu machen. Der ist ja selbst gar kein Marokkaner mehr, sondern ein Niederländer - und damit ein Verräter!" – so die Antwort der Jugendlichen.
Reaktionen dieser Art ist Marcouch gewöhnt. Der 41-Jährige gilt als Vorzeige-Immigrant: Er jobbte als Krankenpfleger, Zimmermann und Fabrikarbeiter, bevor er die Polizeischule absolvierte und zehn Jahre lang in Amsterdam als Streifenpolizist im Einsatz war.
Slotervaart wieder lebenswert machen
Jetzt versucht er sich in der Politik. Sein Ziel: den heruntergekommenen und in Verruf geratenen Stadtteil Slotervaart wieder lebenswert machen. "Natürlich gibt es Bürger, die mich als Bedrohung empfinden", sagt Marcouch. "Sowohl unter den alteingesessenen Holländern, als unter den Immigranten. Die wünschen mir die schlimmsten Krankheiten und nennen mich Verräter."
Doch er bekomme auch eine Menge Komplimente. Viele Muslime seien stolz auf ihn - er gebe ihnen das Gefühl, dazuzugehören.
Dynamisches Aufreten, fester Händedruck, forscher Blick aus prüfenden, dunklen Augen: Kein Zweifel – Marcouch lässt sich kein X für ein U vormachen. Das spürten auch die jungen marokkanischen Kriminellen, denen er sich als Streifenpolizist auf Amsterdams Straßen intensiv widmete.
Er war zusammen mit sechs anderen muslimischen Polizisten dafür eingestellt worden, den Kontakt zur muslimischen Bevölkerung wieder herzustellen, den seine Kollegen total verloren hatten.
Verantwortung übernehmen
Marcouch knöpfte sich nicht nur viele dieser Jugendlichen persönlich vor, sondern auch ihre Eltern. So wie damals setzt er auch jetzt wieder auf das Gespräch – mit Eltern und mit Imamen:
"Imame und Eltern spielen eine Schlüsselrolle. Sie müssen lernen, Verantwortung zu übernehmen. Es ist fünf vor zwölf, und es wird ohnehin Jahrzehnte dauern, bis diese Gesellschaft wieder im Lot ist. "Aber dazu müssen Imame und Eltern jungen Muslimen den Weg weisen. Dann kann der Hass sie nicht länger vergiften."
Um sie vor islamistischen Fundamentalisten zu schützen, hat Slotervaart als erste niederländische Gemeinde einen so genannten Antiradikalisierungsexperten angestellt: Dieser Islamkenner fungiert als Vermittler zwischen muslimischen Bürgern und Behörden.
Er klärt Sozialarbeiter auf und versucht Tabus zu brechen, sodass muslimische Bürger bereit sind, auch mit einheimischen Hilfsinstanzen über ihre Probleme zu sprechen. Dieser Experte hat bereits erreicht, dass in der Moschee in Slotervaart auf Niederländisch gepredigt wird.
Anständige Schulen müssen her
Auch finden dort Diskussionen mit jungen Muslimen statt, zu denen auch Christen eingeladen werden. Auf diese Weise sollen muslimische Jugendliche selbständiges Denken und Debattieren lernen.
"Dann sind sie für radikale Fundamentalisten keine leichte Beute mehr", meint der Bürgermeister. "Dann wachsen die jungen Muslime in Slotervaart zu niederländischen Muslimen heran."
Aber auch die Gemeinde müsse ihre Hausaufgaben machen, betont Marcouch. Das fange bei ganz banalen Dingen wie einer gut funktionierenden Müllabfuhr an. Seit seinem Amtsantritt werden kaputte Straßenlaternen oder Abfalleimer sofort repariert. Daneben setzt er auf Stadtsanierungsprogramme: Ganze Straßenzüge werden derzeit renoviert.
Marcouch: "Wir brauchen auch anständige Schulen. Für Kinder aus armen Familien ist das oft die einzige Chance. Wenn die auch noch auf einer Schule landen, die zu den schlechtesten des Landes gehört, muss man sich nicht wundern, dass eine Unterschicht entsteht."
Ein Symbol für Härte
Vielen Soziologen und Philosophen spricht Marcouch aus dem Herzen. Dass sich ein muslimischer Immigrant als Bürgermeister für die Lebensqualität eines Viertels einsetzen kann, zeige, dass die Niederlande in Sachen Integrationspolitik auf dem Weg zu einem neuen Gleichgewicht seien.
Davon ist auch der Amsterdamer Kulturphilosoph Ad Verbrugge überzeugt: "Letztendlich haben die Entwicklungen seit dem Attentat auf Theo van Gogh doch zu etwas Positivem geführt. Die Gemeinschaft der Muslime war viel zu lange passiv und sah sich als Opfer. Jetzt erkennen immer mehr Muslime, dass auch sie einen Beitrag zur Integration leisten und aktiv werden müssen. Marcouch ist einer von ihnen. Nur so kann die Kluft zwischen Einheimischen und Zuwanderern überbrückt werden."
Das jedoch gehe nicht ohne eine neue Härte. Auch dafür sei Marcouch ein Symbol. Die Zeit der Unverbindlichkeiten sei endgültig vorbei, so Verbrugge: "Nur so kann den jungen Menschen in Vierteln wie Slotervaart eine Zukunft geboten werden. Nur so können wir den immensen sozialen Problemen dort die Stirn bieten – Probleme, mit denen ganz Europa kämpft! Uns geht es dabei noch vergleichsweise gut!"
Viele europäische Grosstädte wie Paris hätten Viertel, wo das Leben noch schwerer zu leben sei als in Slotervaart.
Kerstin Schweighöfer
© DEUTSCHE WELLE 2007
Qantara.de
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