Die Kultivierung des Fremdartigen
Wer Freude an "The New Waw: Saharan Oasis" (2014) von Ibrahim al-Konis finden will, muss sich auf seine Fremdartigkeit einlassen. Al-Koni durch die Brille der englischen Übersetzung von William Hutchins zu lesen, ist, als höre man eine neue und andersartige Musik mit ungewohnten Tönen und bisweilen schrillen Rhythmen.
Auftakt des 1999 auf Arabisch veröffentlichten Romans ist die Ankunft von Zugvögeln. Die Protagonisten des Buchs sind nomadische Wüstenbewohner, die den Vögeln entgegen laufen. Ganz anders als wir es von sesshaften Menschen erwarten würden. Als die Vögel – oder "Flügelwesen" – weiterziehen, bleibt nur ein älteres Exemplar zurück. Das Ableben des Vogels nimmt den Tod des Anführers der Nomaden vorweg, was wiederum unerwartete Veränderungen in der Gruppe auslöst.
Skeptisch gegenüber 'globalen' Romanen
Dies ist bereits der vierte Roman von Al-Koni, den William Hutchins übersetzt hat. Der erfolgreiche US-amerikanische Übersetzer sagt von sich selbst, er sei im Allgemeinen "skeptisch gegenüber 'globalen' Romanen, die offenbar eigens für eine westliche Leserschaft geschrieben wurden." Der Roman "The New Waw: Saharan Oasis" zählt ganz klar nicht dazu. Weder bedient sich der Roman herkömmlicher Charakterisierungen oder Zeitlinien, noch verzweigt er sich auf den Spuren der Gruppe in mehrere Erzählstränge.
Die von Al-Koni gezeichnete Fremdartigkeit hat viel mit seiner eigenen Person zu tun. Die Werke des libyschen Autors sind seit mehr als zehn Jahren in englischer Übersetzung erhältlich – angefangen mit dem magischen "Bleeding of the Stone" (2003), ins Englische übersetzt von May Jayyusi und Christopher Tingley. (Die deutsche Übersetzung erschien 1995 unter dem Titel "Blutender Stein"). Doch erst jetzt erntet der Autor das Lob der Kritiker.
Hutchins sagt, er habe zunächst nicht glauben können, dass seine Übersetzung von "The New Waw: Saharan Oasis" mit dem National Translation Award 2015 der American Literary Translators Association (ALTA) ausgezeichnet worden sei. Doch dies sollte 2015 nicht die einzige literarische Anerkennung von Al-Koni im englischsprachigen Raum bleiben. Sein Werk stand im selben Jahr auf der Longlist für den "Man Booker International Prize". Eine Ehre, die außer ihm nur neun weiteren Autoren weltweit zuteil wurde.
Al-Koni differenziert sich nicht nur über seine Sprache, die von klassischen arabischen Texten inspiriert ist. Auch die Szenerie der Wüste, der religiöse Synkretismus und die Poesie der Tuareg sind seine Alleinstellungsmerkmale. In vielen Arbeiten von Al-Koni sind Landschaft und Tiere kein bloßes erzählerisches Beiwerk. Vielmehr vermittelt sein Werk einen neuen Blick auf die Beziehung zwischen Menschen, Tieren, Geist und Landschaft.
Grundspannung zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit
"The New Waw: Saharan Oasis" betrachtet die essenzielle Spannung zwischen der Verlockung der Ferne und der Sehnsucht nach Sesshaftigkeit. Als der Anführer stirbt, errichtet die Gruppe ihm ein Grabmal. Eine Wahrsagerin wird mit der Aufgabe betraut, die Botschaften des toten Anführers zu empfangen.
Zu diesem Zweck errichtet man ein Gebäude für sie und das Grabmal. Dieses Grabmal wird nun zum "Pflock", der die Gemeinschaft an den Ort bindet. Es ist der Anlass, einen Brunnen zu bohren, worauf die Umgebung ergrünt. Karawanen kommen, Fremde ziehen ein und bald schon umfrieden Wände die Gemeinschaft. Die in Traditionen tief verwurzelte Gemeinschaft wandelt sich.
Dieser Wandel betrifft nicht nur die Menschen der Wüste. Er verändert auch die Pflanzen und Tiere in der neu geschaffenen Oase. Der zurückgebliebene Zugvogel aus dem ersten Kapitel wird mit menschlichen Attributen beschrieben: "Seine Landung wirkte tölpelhaft und sein edler Schnabel versank im Schmutz. Er entriss ihn der Erde und fuhr damit durch die Luft, als wolle er den Staub und die Schmach abschütteln. In seinen müden, ermatteten Augen sahen die Jungen das Schimmern von Tränenfeuchte."
Doch nicht nur den Vögeln werden menschliche Eigenschaften zugesprochen. Die Menschen selbst werden wie Vögel beschrieben. Als hätten sie die gleichen Hoffnungen und Sehnsüchte wie Zugvögel.
Diese Verflechtungen erstrecken sich sogar über das Leben der Tiere hinaus: Die scheinbar leblose Wüste – so erfahren wir – entstammt auch aus den Gebeinen unserer Vorfahren. Der Anführer fragt sich: "Haben die Menschen der Wüste nicht den Körper der Wüste in der Vorzeit selbst geschaffen?"
Lokales wird global
Der Roman erwähnt an keiner Stelle einen der heutigen Staaten. Wir erfahren von einem Ort namens "Hammada", einem nördlich gelegenen Gebiet in der libyschen Sahara. Wie in volkstümlichen Erzählungen üblich, nehmen wir die Protagonisten des Buchs nicht als Individuen wahr. Die meisten tragen keinen Namen. Sie sind eher durch ihre Rolle in der Gemeinschaft als durch ihre Lebensläufe und Eigenschaften definiert.
Doch Al-Koni schreibt nicht aus der Perspektive eines "authentischen" Einheimischen. Der Autor studierte in Russland und lebt seit Langem in der Schweiz. Sein Werk korrespondiert mit anderen Traditionen. Zu Anfang jedes Kapitels zitiert er Schopenhauer, Zhuang Zi, den Rigveda und andere Weisheiten. Die Welt von "The New Waw: Saharan Oasis" mutet so eigentümlich wie altertümlich an. Und die Moderne an ihren Rändern erscheint ebenso verlockend wie bedrohlich.
Al-Koni verbrachte seine Kindheit in der Sahara unter den Tuareg. Seit Langem lebt er im Ausland, doch seine Bücher kehren immer wieder in die Wüste zurück. In einem Interview mit Swiss World, das er 2010 gab, erklärte Al-Koni: "Auch wenn ich ein Prophet wäre, hätte ich nicht sechzig Bücher darüber aus dem Gedächtnis schreiben können. … Um das mir Teuerste gegenwärtig zu machen, musste ich auf eine andere Art von Gedächtnis zurückgreifen, nämlich darauf, was die Sufis das 'innere Gedächtnis' und was die Psychologen das 'Unterbewusstsein' nennen."
Hutchins verweist darauf, dass der literarische Stil von Al-Koni nicht nur von Spiritualität, sondern auch von Mathematik geprägt ist. "Al-Koni verwendet Anaphern, indem er beispielsweise dasselbe Wort auf mehreren Seiten wiederholt. Die Unbekannte x aus der mathematischen Gleichung wird zu dem jeweils passenden Wort in allen diesen verschiedenen Kontexten."
Hutchins mag die "intellektuelle Herausforderung" der Romane von Al-Koni. Doch "es ist dieser schonungslose Lyrismus seines Schreibstils, der Lust auf mehr macht: das schmerzlich schöne Locken seiner Bilder und Worte."
Hutchins arbeitet nach eigener Auskunft derzeit an einem weiteren Roman von Al-Koni. "Ich habe bereits 450 der insgesamt 700 Seiten von 'Al-Majus' übersetzt. Wobei ich den Titel aus verschiedenen Gründen mit 'Die Fetischisten' wiedergebe. Nach seiner [Al-Konis] Meinung ist das sein Meisterwerk. Dem stimme ich zu."
Marcia Lynx Qualey
© Qantara.de 2016
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers
Ibrahim al-Koni: "Die verheissene Stadt: Roman aus der Sahara", aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich , Lenos-Verlag 2011, 234 Seiten, ISBN 978 3 85787 370 6