Verdrängte Schuld, verdrängte Erinnerungen
Am 12. November 2015 riss ein heimtückischer Doppelanschlag inmitten des Zentrums von Beirut mindestens 40 Menschen in den Tod. Einen Tag später starben in Paris mehr als 130 Menschen durch die Hand brutaler Attentäter.
In beiden Fällen hatte sich der Islamische Staat zu den Terrorakten bekannt. Die 1956 im Libanon geborene Autorin Iman Humaidan weilte in jenen Tagen selbst in Paris – jener Stadt, in die sie einst vor den Gewaltexzessen des libanesischen Bürgerkriegs geflohen war und in der sie eine zweite Heimat gefunden hat.
Eben jene Gewaltexzesse, die den libanesischen Bürgerkrieg begleiteten und die nachfolgenden Generationen grundlegend prägte, stehen im Mittelpunkt des literarischen Werkes der Autorin: Alle ihre Romane erzählen vom Trauma dieses Krieges, der eine ganze Nation, ja Familien gespalten hat.
Alle ihre Romane sind der Aufarbeitung dieses Traumas verschrieben – bis heute bricht die libanesische Gesellschaft nur ungern das darüber vorherrschende Schweigen.
Nûras Koffer: Hinterlassenschaften aus Zeiten des Krieges
Wie gefährlich es wiederum sein kann, das Schweigen zu brechen, das erfährt die junge syrische Journalistin Nûra – sie ist eine der drei Protagonistinnen in Humaidans Roman – am eigenen Leib. 1978 – es ist das Jahr, in dem der Roman beginnt – wird sie in Beirut vom syrischen Geheimdienst ermordet, im Auftrag von jenem Offizier, der ihre Schwester erst geschwängert, dann in den Selbstmord getrieben hat.
Nicht zuletzt wegen dieses Selbstmordes ist Nûra in den Libanon geflohen: Sie hatte entgegen dem Willen jenes Mannes sowie der eigenen Familie beschlossen, über das Schicksal ihrer Schwester – das diese mit vielen anderen Frauen teilt – in aller Öffentlichkeit zu schreiben.
Just Nûras Wille, die Wahrheit zu sagen, wird ihr somit zum Verhängnis. In Beirut hinterlässt sie ein kleines Kind – und einen Koffer mit Briefen und persönlichen Dokumenten. Das Kind bleibt in Obhut ihrer Freundin Sabah – einer Kurdin, die selbst einst als Emigrantin in den Libanon kam.
Der Koffer wiederum gerät 16 Jahre später in die Hände der libanesischen Journalistin Maja, die nach mehreren Jahren in Paris soeben wieder nach Beirut zurückgekehrt ist.
Beirut – eine Stadt will vergessen
Beirut scheint in jenen Jahren zu neuem Leben erwacht: Ganze Straßenviertel werden renoviert und wiederaufgebaut. Maja – in der man mühelos ein alter ego der Autorin erkennen kann – ist allerdings skeptisch: Sie ahnt, dass der emsige Glanz des Neuen der hektische Versuch ist, die alten, unverheilten Wunden zu übertünchen.
Sie selbst recherchiert für einen Film, in dem sie das Leben der einstigen Bewohner der Stadt dokumentieren will. So stößt sie in einer der noch immer vom Krieg gezeichneten Ruinen auf Nûras verstaubten Koffer. Sie ist elektrisiert – und begibt sich auf Spurensuche.
Die Spurensuche wird zu einer Reise durch Zeit und Raum, in deren Verlauf die Autorin Iman Humaidan anhand der drei Einzelschicksale von Maja, Nûra und Sabah zugleich die seelischen und gesellschaftlichen Versehrungen nicht nur einer Nation, sondern einer ganzen Region subtil kartographiert.
Der Blutzoll nationaler Identität
Nûras Tagebuch etwa führt zurück in die Zeit, in der in Beirut der Bürgerkrieg ausbricht und jene sektiererische Gewalt ihren Anfang nimmt, die wie ein Flächenbrand über die Grenzen des Landes hinaus Folgen zeigen wird. Die Briefe, die Nûra wiederum zwischen 1975 und 1978 von dem türkisch-kurdischen Journalisten Kemal aus Istanbul erhält – er wird ihr Geliebter und ist der Vater ihres Kindes – reflektieren den Preis, den jede Nation entrichtet, wenn sie ihre eigene Identität auf dem Blut der Entrechteten und Unterdrückten errichtet.
Und immer steht der Gewalt das Schweigen gegenüber. Auch Sabah, Nûras Freundin, hat lange versucht, zu vergessen, was in den Wirren des Krieges geschehen ist – und was sie selbst um des Überlebens willen getan hat. Majas Besuch konfrontiert sie mit der Vergangenheit – und der eigenen Schuld.
Untergründige Verbindungslinien
Doch um Schuldzuweisung geht es Iman Humaidan an keiner Stelle des Romans. Vielmehr zeichnet sie untergründige Verbindungslinien nach: zwischen Menschen und Nationen. Humaidan spannt deshalb ihren Roman nicht nur zwischen Syrien, dem Libanon und der Türkei auf, sondern führt zudem Figuren ein, die der Idee einer monolithischen Identität widersprechen: Da ist der Beiruter Jude Ismael, der Nûras Koffer versteckt – bis er selbst aus der Stadt gejagt wird. Da ist Nasar, ein Schumacher mit armenischen Wurzeln, die er noch immer verleugnen muss.
Allen Figuren ist mehr oder weniger gemein, dass sie Emigranten sind: Menschen, die fliehen müssen und die auf diese Weise alles verlieren. Doch was sie womöglich finden, sind Gleichgesinnte – und die Erfahrung, dass es Verbindendes gibt, über die Grenzen von Nation und Herkunft hinweg.
Das weibliche Gesicht von Krieg und Emigration
Eben das Verbindende – nicht das Trennende – betont Iman Humaidan. Dass der Roman "Fünfzig Gramm Paradies" dabei am Ende gefährlich nahe an die Gewässer der Gefühligkeit gerät, verzeiht man nur allzu gerne. Denn in einem ist der Roman bestechend. Iman Humaidan zeigt – und das anhand von manchmal nur winzigen Miniaturen – das weibliche Gesicht von Krieg, Flucht und Emigration. Wir sehen es viel zu selten, noch immer. "Fünfzig Gramm Paradies" ist nicht zuletzt deshalb Lektüre von drängender Aktualität.
Claudia Kramatschek
© Qantara.de 2017
Iman Humaidan: "Fünzig Gramm Paradies", Roman aus dem Libanon, Aus dem Arabischen von Regina Karachouli , Lenos-Verlag 2016, ISBN 978 3 85787 953 1