Lebenschroniken aus einer lasterhaften Stadt
"Beirut Noir" ist der neueste Titel der Kurzgeschichtenreihe von Akashic Books, die 2004 mit dem Titel "Brooklyn Noir" an den Start ging. Akashic hat seitdem mehrere Dutzend weitere Bücher veröffentlicht und sich dabei in jüngster Zeit dem Nahen Osten gewidmet. Mindestens drei weitere Titel aus dieser Region sind in Vorbereitung: "Baghdad Noir" (herausgegeben von Samuel Shimon), "Jerusalem Noir" (herausgegeben von Dror Mishani) und "Marrakech Noir" (herausgegeben von Yassin Adnan).
Die libanesische Autorin Iman Humaydan hat die 15 neuen Geschichten in "Beirut Noir" zusammengetragen. Kundig übersetzt wurden sie von Michelle Hartman. Verfasst wurden sie in den drei Hauptsprachen des Libanon: Arabisch, Französisch und Englisch. Dem Genre "Roman noir" nähern sie sich auf ganz unterschiedliche Weise. Was sie eint, ist der Verlust: Ihre Charaktere bleiben zurück, nachdem viele ihrer Landsleute geflohen sind: aufs Land, nach Kanada, in die Golfstaaten, in die USA oder nach Südamerika und Europa.
Keine der Geschichten macht sich die erzählerische Kompaktheit der (amerikanischen) "Hardboiled"-Krimis zu eigen. Doch der Roman noir ist nicht allein eine Sache des (Farb-)Tons. Es geht darum, die Perspektive zu ändern. Wir sehen nicht eine lasterhafte Welt durch die Augen eines untadeligen Detektivs, sondern wir nehmen die Rolle eines selbstzerstörerischen Kriminellen oder Opfers ein. Und so gesehen funktioniert Beirut mindestens so gut wie Brooklyn. Der langjährige Bürgerkrieg im Libanon bildet die Kulisse von Kriminalität und Korruption. Seine zerstörerische Wirkung frisst sich durch Clans, Milizen, Sekten und Regierung.
Genius loci
Jede Geschichte spielt in einem bestimmten Beiruter Viertel oder Straßenzug. Gemeinsam fügen sich die 15 Beiträge zu einem organischen Mosaik dieser Stadt. Die Handlungsorte werden gleich zu Beginn jeder Geschichte genannt: das Arbeiterviertel Bourj Hammoud, die ehemalige Frontlinie Khandaq al-Ghamiq oder das charmante Raouché und die belebte Trabaud-Straße. Eine schematische Karte von Beirut im Deckel des Buchs verleiht dem Leser Orientierung.
Den eindrucksvollen Auftakt der Sammlung macht "The Bastard" von Tarek Abi Samra. Die ursprünglich auf Französisch verfasste Geschichte spielt im heruntergekommenen Viertel Chiyah. Im dortigen Krankenhaus werden unter chaotischen Umständen zwei neugeborene Jungen verwechselt. Der eine ist der rechtmäßige Sohn des Mannes, der andere ist sein uneheliches Kind.
Die Geschichte dreht sich um diese beinahe zwillinghaften Protagonisten, die in derselben Nacht von zwei verschiedenen Müttern geboren werden. Quasi-Zwillinge sind ein häufiges Motiv der Romane und Filme im Nachkriegslibanon – in Elias Khourys "Sinalcol" (2012) ebenso wie in Rabih Alameddines "Hakawati" (2008).
"The Bastard" wird getrieben vom Zorn über eine ungerechte Enteignung. Die Erzählung nutzt die klaustrophobischen Räume der Kurzgeschichte und zieht uns damit aus einem ohnehin beengten Ort in einen noch engeren. Während der Vater sich alle Mühe gibt, die Quasi-Zwillinge zu trennen, bemühen sich diese, Freunde zu werden.
Und doch neidet jeder dem jeweils anderen dessen vermeintliche Vorteile: der eine ist der rechtmäßige Erbe, der andere ist in Freiheit. Beide ringen mit ihrem konservativen, herrischen Vater.
Als der Vater die Freundschaft der beiden entdeckt, zwingt er den "Bastard", den Libanon für eine Weile zu verlassen. Aber der Sohn kann in der Fremde nicht bleiben. „Zunächst gefiel ihm Europa. Doch schon wenige Monate später quälte ihn ein seltsames Verlangen. Was zu Anfang bloß ein vages Gefühl war, etwas Unbestimmtes zu vermissen, entwickelte sich zu einem haltlosen Zorn.“ Und dieser Zorn treibt ihn heim. Und doch schließt die Geschichte mit einem Verbrechen, das nicht aus Wut geschieht, sondern aus Verzweiflung.
Schaurige Geschichten
Die Geschichten der Sammlung thematisieren unterschiedlichste Verbrechen. In der von Rawi Hage ursprünglich auf Englisch verfassten Story "Bird Nation" richtet sich das eigentliche Verbrechen gegen die Stadt selbst. Eine absonderliche Folge sozialer und ökologischer Frevel gipfelt darin, dass Militärfahrzeuge die Straßen verstopfen, sodass es zu wochenlangen Verkehrsstaus kommt.
Um dem zu entkommen, lassen sich die Menschen Flügel wachsen. Damit ergreifen alle, bis auf die Politiker, die Flucht. "Und als die Menschen sich daranmachten, in die Lüfte aufzusteigen und in die Ferne zu entschweben, sah man einen Politiker und seinen Leibwächter, wie sie ihre Gewehre ergriffen und in den Himmel richteten."
"Maya Rose" von Zena El Khalil wurde auf Arabisch verfasst. Ein totes Kind übernimmt hier die Rolle des Erzählers. Ebenfalls auf Arabisch erzählt Najwa Barakat ihre schaurige Geschichte "Under the Tree of Melancholy" durch die Augen eines gebrochenen Mannes, der sein eigenes Jenseits erlebt. Er ist nur noch ein "Auge", das zur Passivität verdammt von seiner Frau hierhin und dorthin mitgenommen wird. Sein Verbrechen wurzelt in seiner Kindheit, als er der Beschützer seines behinderten Bruders war.
Der einst gesunde, hübsche Spross der Familie erbt nach seines Bruders Tod, für den er mitverantwortlich ist, dessen Rolle. Als der Bruder starb, "starb auch mein Herz, meine Eingeweide wurden zerquetscht, meine Leber entrissen. Alles, was mir blieb, war ein Auge".
Zu den Verfassern der Geschichten zählen einige der international anerkanntesten Autoren Beiruts – wie Hage und Barakat. Doch es kommen auch jüngere und experimentierfreudige Autoren zu Wort. Die dreißigjährige Abi Samra, die 33-jährige Bana Beydoun und ein junger Autor, der unter dem Pseudonym "The Amazin' Sardine" schreibt. Die Sammlung vermittelt kein ganz einheitliches Bild: Manche Experimente gelingen besser als andere. Und doch spiegelt sich gerade in dieser Unebenheit die Ansicht einer organischen, facettenreichen Stadt.
Marcia Lynx Qualey
© Qantara.de 2015
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers