Taube Ohren
Jüngst wurde bekannt, dass die Regierung in Neu Delhi den "Islamischen Staat" in einem formalen Akt verboten hat: Die Organisation ziele auf die "Radikalisierung und Rekrutierung" indischer Jugendlicher und stelle ein Sicherheitsrisiko dar, hieß es in einer Pressemitteilung.
Laut Informationen der "Times of India" ist Saudi-Arabien mit 3.000 Rekruten das wichtigste Herkunftsland für auswärtige IS-Kämfer. Auf den Plätzen folgen Russland und Marokko mit 2.755 bzw. 2.500 Rekruten. Indien bildet in dieser Tabelle das Schlusslicht – mit lediglich zwei Rekrutierten. Das ist eine erstaunlich kleine Zahl für ein Land mit über 1,2 Milliarden Einwohnern, von denen zudem rund 180 Millionen Muslime sind. Nur in Indonesien leben mehr Muslime als in Indien.
Offenkundig stößt die IS-Propaganda bei Indiens Muslimen auf taube Ohren. Zwar sind IS-Werbevideos mit Untertiteln in Hindi, Urdu und Tamil im Internet aufgetaucht; und in einer Rede hatte IS-Chef Abu Bakr Al-Baghdadi vergangenen Sommer auch Indien zum Einzugsgebiet des angestrebten Welt-Kalifats erklärt. Doch nach amtlichen Angaben seien lediglich vier – weniger als ein halbes Dutzend – indische Staatsbürger den IS-Rufen gefolgt. Von diesen befänden sich derzeit nurmehr zwei im Krisengebiet, ein Inder sei bei Kämpfen ums Leben gekommen, ein weiterer ist in die Heimat zurückgekehrt und befinde sich in Polizeigewahrsam, berichten die Zeitungen.
Keine besondere Zugkraft
"ISIS hat in Indien keine besondere Zugkraft", meint der frühere Chef des indischen Auslandsgeheimdienstes Alok Joshi. Den Behörden sei es gelungen, etliche reisewillige Jugendliche abzufangen und an der Einreise in arabische Länder zu hindern. Man habe die Jugendlichen nicht bestraft, sondern mit "Samthandschuhen" behandelt, sagt der Geheimdienstmann. Nach eingehender Beratung würden die "Möchtegern-Dschihadisten" zu ihren Eltern zurückgebracht.
Im Umgang mit potentiellen IS-Rekruten orientiert sich Indien an westlichen Modellen. Besonderes Gefallen findet offenbar das österreichische Verfahren der Entradikalisierung. Die Inder diskutieren die Einrichtung einer Hotline für Gefährdete und Ratsuchende, die nicht von der Polizei, sondern einer Nichtregierungsorganisation betrieben werden soll. Beratung statt Strafe sei die handlungsleitende Devise, heißt es.
Soziale Medien als Einfallstor für IS-Rekrutierungen
Auf gutes Zureden allein wollen sich die indischen Sicherheitsbehörden nicht verlassen. Als Quelle der islamistischen Bedrohung sehen sie vor allem das Internet. Gerade die sozialen Medien gelten als Tummelplatz für Terror-Propaganda und Einfallstor für IS-Rekrutierungsversuche.
Als der israelische Verteidigungsminister Mosche Jaalon kürzlich in Neu Delhi zu Besuch war, ging es nicht nur um Rüstungsgeschäfte. Die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste der ungleichen Partner stand auch auf der Tagesordnung: Die Inder wollen von den Israelis lernen, wie sie das Internet besser überwachen und islamistische Propaganda neutralisieren können.
Auch beim Staatsbesuch von US-Präsident Barack Obama Ende Januar ging es um die Terrorbekämpfung. Während Neu Delhi keine Gelegenheit verstreichen lässt, gewalttätige Übergriffe anzuprangern, die vom Territorium des Erzfeindes Pakistan ausgehen, legte Indiens Ministerpräsident Narendra Modi Wert darauf, das Thema "Islamischer Staat" mit keiner Silbe öffentlich zu erwähnen.
Leise Töne gegen den Terror
Neu Delhi befolgt in bezug auf die Terrormiliz eine Strategie der leisen Töne. In der Golfregion leben und arbeiten rund sieben Millionen Inder, drei Millionen allein in Saudi-Arabien. Ihr Schutz ist eine Priorität der indischen Politik.
Welche Gefahren lauern, wurde letzten Sommer deutlich, als vorrückende IS-Milizionäre im Irak zunächst indische Krankenschwestern, später indische Bauarbeiter festsetzten. Nach nur kurzer Zeit gelang es, die Krankenschwestern freizubekommen; die 39 Bauarbeiter befinden sich weiterhin im IS-Gebiet. Ihre Freilassung ist seither ein Hauptziel der indischen Nahost-Diplomatie.
Solange sich indische Staatsbürger unter der Kontrolle der islamistischen Terrormiliz befinden, ist nicht mit einer aktiven Rolle Delhis in der internationalen Front gegen den Terrorismus zu rechnen. Unausgesprochen ist die Angst, denn indischen Arbeitern könnte passieren, was anderen ausländischen Geiseln in IS-Gewahrsam widerfahren ist.
Ronald Meinardus
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Dr. Ronald Meinardus ist der Leiter des Regionalbüros Südasien der Friedrich Naumann Stiftung mit Sitz in Neu Delhi.