Die Wagenburg der Aufklärung

In der Türkei verschärfen sich die Spannungen zwischen der Regierungspartei AKP und ihren kemalistischen Gegnern. Der deutschtürkische Schriftsteller Zafer Senocak skizziert die miteinander ringenden Kräfte, mit deren Einschätzung man sich in Europa oft schwertut.

Meine Mutter ist Jahrgang 1923. Sie ist genauso alt wie die türkische Republik. Sie gehört der Generation von Frauen an, die den Schleier ablegten, nicht so sehr weil sie aufbegehrten, sondern weil die junge türkische Republik unter der Alleinherrschaft des Erziehungsdiktators Mustafa Kemal ihnen Rechte schenkte, die bis dato einmalig in der islamischen Welt waren.

Das Wahlrecht, das Recht auf Bildung und die rechtliche Gleichstellung mit dem Mann. Frauen wurden sichtbar in der türkischen Gesellschaft. Sie gelangten relativ früh in Führungspositionen.

Nicht wenige dieser Frauen, die studieren konnten, wurden Lehrerinnen, wie meine Mutter. Bildung und Aufklärung wurden grossgeschrieben. Der Zivilisationsprozess kannte keine Zweifel und keinen Widerspruch.

Die Emanzipation der Frau war das Herzstück der türkischen Aufklärung, deren Kraft allerdings nach dem frühen Tod von Mustafa Kemal 1938 erlahmte. Die Provinz, die entlegenen Gegenden im Osten des Landes, in denen vor allem die Kurden lebten, hatten die Reformer noch lange nicht erreicht.

Sie hatten allerdings einen Staatsapparat geschaffen, der keine Systemopposition duldete und die kurdische wie auch die traditionell muslimische Identität rigoros unterdrückte.

Krise des Bürgertums

Dieser ideologische Staatsapparat ist in die Jahre gekommen und wehrt sich heute gegen seine Auflösung. Die Schichten, die ihn tragen, das Bildungsbürgertum, große Teile der Mittel- und Oberschicht, erscheinen wie die Verfechter einer untergegangenen Ordnung, die in Zeiten der Globalisierung und postmoderner Puzzle-Identitäten zum Scheitern verurteilt zu sein scheint.

Doch dieser Schein täuscht. Denn die Kraft, die sie herausfordert, hat bisher nicht beweisen können, dass es ihr nur um eine Liberalisierung und Demokratisierung der türkischen Gesellschaft geht. Eine Gesellschaft wird nicht dadurch liberal, dass die Zahl verhüllter Frauen zunimmt.

So sind es heute vor allem aufgeklärte Frauen, die einen nichtislamischen Lebensstil führen, die Druck auf die muslimisch geprägte türkische Regierung machen. Letztes Jahr hat man sie zu Hunderttausenden auf den Demonstrationen gegen eine Reislamisierung der türkischen Gesellschaft gesehen.

Türkische Aufklärer als Boten der Vergangenheit

Warum, fragt man sich, erfährt die türkische Aufklärung so wenig Unterstützung im Ausland? Frankreich, das Vorbild und Mutterland der Aufklärung, scheint der modernen Türkei permanent in den Rücken zu fallen, indem es sich den EU-Ambitionen der Türkei in den Weg stellt. Dabei ist die Angst vor einer Islamisierung Europas längst eine Konstante in der europäischen Psyche.

Verfassungsgericht in Ankara; Foto: AP
Bewährungsprobe für die AKP: Derzeit läuft der Verbotsprozess gegen die türkische Regierungspartei von Ministerpräsident Erdogan vor dem Verfassungsgericht in Ankara.

​​Aber es gibt noch etwas anderes. Es ist das melancholische Gefühl gegenüber der Aufklärung in Europa, das die türkischen Aufklärer wie die Boten aus einer vergangenen Zeit erscheinen lässt. Die überall konstatierte Krise des Bürgertums lässt wenig Verständnis aufkommen für ein dynamisches, wehrhaftes, von sich selbst überzeugtes Bürgertum.

Und tatsächlich ist auch in der Türkei dieses Bürgertum verwundet, bloß wehrt es sich dagegen, seine Wunden zu lecken. Es sträubt sich dagegen, sich gegenüber Kritik zu öffnen, ist zur Selbstkritik nicht fähig, nicht willens, das eigene Gesellschafts- und Weltbild permanent zu hinterfragen.

Wagenburgmentalität

Stattdessen pflegt es weiter den nationalistischen Ton der zwanziger und dreissiger Jahre, der in Europa zur grössten Katastrophe der Menschheitsgeschichte geführt hat. Diese Haltung führt zu einer Wagenburgmentalität, die nur aus der Defensive heraus aktiv werden kann.

In den vergangenen Jahrzehnten trug die Modernisierung und Öffnung der türkischen Gesellschaft deshalb nicht mehr die Handschrift der kemalistischen Reform. Stattdessen führte der staatlich definierte Kemalismus zur Stagnation. Der Gründungsmythos der Türkei verblasste.

Deshalb tut man sich in Europa heute leichter, einen Dialog mit den gemässigten Muslimen der Türkei zu führen als mit den Trägern der aufklärerischen, säkularen Republik. Man ist eher bereit, den Wölfen im Schafspelz Glauben zu schenken als dem eigenen Abbild, an dessen Widersprüchlichkeit, dessen Zerrissenheit und Fragilität man nicht erinnert werden möchte.

Ist das Potenzial der Aufklärungsidee erschöpft? Was bleibt vom Zivilisationsprozess in einer globalisierten Welt, wenn kulturelle Werte nivelliert werden?

Wölfe im Schafspelz?

Doch sind die Muslime der Türkei wirklich Wölfe im Schafspelz? Waren sie nicht diejenigen, die die längst fälligen Reformschritte unternommen haben, um das Land aus seiner Erstarrung zu lösen und an Europa anzunähern?

Türkischer Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan; Foto: AP
Mit dem Rücken zur Wand: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan steht als Folge des AKP-Verbotsantrags zunehmend politisch unter Druck.

​​Zumindest ein Teil der türkischen Gesellschaft hat kein Vertrauen in sie, und es ist der Erdogan-Regierung bis heute, auch nach sechs Jahren des Regierens, nicht gelungen, diese Bevölkerungsgruppe, die etwa einen Drittel der türkischen Gesellschaft ausmacht, von der Integrität ihrer Absichten zu überzeugen.

Solange das so ist, wird der Druck auf den Muslimen bleiben. Das ist auch gut so. Denn die Beweislast, dass eine muslimische Glaubensüberzeugung mit der offenen Gesellschaft und der Demokratie vereinbar ist, muss von den Muslimen erbracht werden. Vor allem im Alltagsleben sind noch viele offene Fragen.

Warum konzentrieren sich die Bürgermeister der AKP immer wieder auf Erziehungsaufgaben, die eindeutig muslimischer Prägung sind, wie Alkoholverbote und Geschlechtersegregation? Wie viel Einfluss haben die religiösen Orden, die vom Hintergrund aus operieren, auf Bürokraten der Regierungspartei? Warum ist es bisher nicht gelungen, die Versuche zur Reform der islamischen Religion, die an der theologischen Fakultät in Ankara seit Generationen unternommen werden, populärer zu machen?

Auch der Dialog mit der liberalen alewitischen Glaubensgemeinschaft ist ins Stocken geraten. All diese Fragen zeigen, dass es in der Türkei um mehr geht als nur um Kopftücher an den Universitäten.

Es geht um die Grundorientierung der Gesellschaft. Und auch darum, ob die Ideen der Aufklärung einen universellen Charakter besitzen. Allerdings hat man nicht den Eindruck, dass dies in Europa auch immer so verstanden wird.

Zafer Senocak; Foto: DW-TV

​​Zafer Senocak

© Qantara.de 2008

Der Schriftsteller und Essayist Zafer Senocak, 1961 in Ankara geboren, kam 1970 nach München und lebt seit 1990 in Berlin. 2006 erschien im Babel-Verlag der Band "Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch".

Qantara.de

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Der deutsch-türkische Politologe Cemal Karakas von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung befürchtet ein vorläufiges Ende des Reformprozesses, falls die regierende AKP verboten wird. Ein Interview von Dogan Michael Ulusoy

Verbotsverfahren gegen die AKP
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Abdurrahman Yalcinkaya
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