„Die meisten israelischen Medien sind Teil des Krieges gegen die Palästinenser”
+972 Magazine hat mehrere wichtige Recherchen zu Israels Krieg gegen Gaza veröffentlicht. Hat das die internationale Sichtbarkeit Ihrer Arbeit erhöht? Wie sehen Sie derzeit Ihre Rolle als Magazin?
Seit dem Angriff am 7. Oktober und dem darauffolgenden Krieg gegen Gaza bekommen wir weit mehr Aufmerksamkeit als vorher, sowohl für unsere Investigativrecherchen als auch für unsere Berichte aus Gaza, Israel und dem Westjordanland. +972 ist ein binationales Projekt, wir sind eine Gruppe von palästinensischen und israelischen Journalist:innen. Wir bieten Stimmen von vor Ort eine Plattform – Aktivist:innen, Journalist:innen und Akademiker:innen, die der Kampf gegen die Besatzung und Apartheid vereint.
Was unterscheidet +972 von anderen Publikationen zu Israel und Palästina?
Wir haben seit dem 7. Oktober drei Säulen der Berichterstattung. Die erste sind Berichte von vor Ort, aus Gaza. Wir sitzen nicht bloß in einem Büro in London, Jerusalem oder Tel Aviv, wir bekommen unsere Berichte direkt von palästinensischen Journalist:innen in Gaza. Manche von ihnen haben Gaza in der Zwischenzeit verlassen, doch sie berichten immer noch als Menschen aus Gaza. Es ist uns wichtig, dass die Handlungsmacht bei Palästinenser:innen verbleibt.
Die zweite Säule sind Investigativrecherchen. Oren Ziv hat kürzlich mit seiner Recherche über Soldat:innen, die Gaza verlassen haben, großartige Arbeit geleistet. Der Artikel sorgte für viel Wirbel. Genau wie Yuval Abrahams Recherche zur Verwendung von künstlicher Intelligenz durch das israelische Militär im Gazakrieg. Die dritte Säule ist unsere Berichterstattung aus Israel und dem Westjordanland. Wir veröffentlichen jüdisch-israelische Stimmen gegen den Krieg, Stimmen von trauernden Angehörigen der Geiseln und palästinensische Stimmen.
Die von Ihnen angesprochenen Investigativrecherchen beruhen in großen Teilen auf Quellen im israelischen Militär. Wie stellen Sie die Glaubwürdigkeit Ihrer Quellen sicher?
Zuallererst vertrauen wir unseren Reporter:innen. Yuval ist zum Beispiel seit vielen Jahren Mitglied des +972-Teams. Wir wissen, dass seine Quellen vertrauenswürdig sind. Für fast jeden Satz, den Sie in unserem Magazin lesen, haben wir zwei oder mehr Quellen, die die Information bestätigen. Wenn es nur den kleinsten Zweifel gibt, prüfen wir die Information doppelt und dreifach. Auch dürfen Sie nicht vergessen, dass all diese Informationen durch die Militärzensur gegangen sind. Wir sind selbstverständlich gegen Zensur, doch wir haben keine Wahl und müssen unsere Artikel dort einreichen.
Also hat die Zensur des israelischen Militärs direkte Auswirkungen auf Ihre Arbeit?
Ja, wenn Artikel sich auf Themen wie das Militär beziehen, ist dieses befugt, Teile des Artikels zu löschen. Anschließend informieren sie die Redaktion darüber.
Vor einigen Monaten publizierte Yuval Abraham einen Bericht auf +972, in Zusammenarbeit mit dem britischen Guardian und dem hebräisch-sprachigen Medium Local Call. Darin geht es um Israels versuchte Einflussnahme auf die ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs, Fatou Bensouda. Ich nehme an, die Zensur hat keine Kontrolle über Zitate, die +972 direkt von ausländischen Medien wie dem Guardian übernimmt?
Was immer Sie auf +972 über die Recherche zum Internationalen Strafgerichtshof lesen, hat die Zensur des Militärs durchlaufen.
Der Haaretz-Kolumnist Gideon Levy sagte mir kürzlich in einem Interview, das größte Problem in israelischen Medien sei nicht die Militärzensur, sondern Selbstzensur. Stimmen Sie dem zu?
Bis zum 7. Oktober hätte ich dem zugestimmt. Es gibt mutige Journalist:innen bei israelischen Medien, die zu eigentlich jedem Thema gut arbeiten – außer zu Palästina. Bei diesem Thema versuchen sie es nicht einmal. Nach dem 7. Oktober ist es auch keine Frage von Selbstzensur mehr. Die allermeisten israelischen Medien sind Teil der Kriegsführung geworden – sie haben sich für den Krieg gegen die Palästinenser:innen rekrutieren lassen. Die meisten Journalist:innen haben die Phase der Selbstzensur somit längst hinter sich gelassen.
Woher kommt die Bereitschaft der israelischen Journalist:innen, an der Kriegsführung mitzuwirken, sich rekrutieren zu lassen, wie Sie das nennen?
Von der Entmenschlichung der Palästinenser:innen. Dieser Prozess hat vor langer Zeit begonnen und seinen Gipfel nach dem 7. Oktober erreicht. Sobald man aufhört, Palästinenser:innen als Menschen zu sehen, wirkt alles legitim. Nach dem 7. Oktober waren selbst bei Haaretz fast alle vom Gedanken „Bestraft sie alle!“ überzeugt. Das mag sich jetzt ändern, weil immer mehr Journalist:innen verstehen, dass nur ein politischer Prozess etwas bewirken wird, dass der Krieg jetzt beendet werden muss und dass die erklärten Kriegsziele nicht erreicht werden können. Israel hat Gaza komplett zerstört, jeden Aspekt des Lebens in Gaza. Israel hat 40.000 Palästinenser:innen getötet, doch weder die Ideologie noch die Organisation Hamas ist zerstört.
Gab es in der israelischen Gesellschaft einen Rechtsruck?
Definitiv. Im rechten Spektrum gibt es sicher Unterschiede bei der Frage, wie die Palästinenser:innen kontrolliert werden sollten – doch alle wollen weiter kontrollieren, besetzen und immer mehr Palästinenser:innen überzeugen zu gehen. Manche sprechen explizit von Zwangsumsiedlung. Nichts davon ist neu. Es ist einfach präsenter geworden nach dem 7. Oktober.
Inwiefern setzen sich die Leute in Israel mit der Arbeit Ihres Magazins auseinander?
Aus Israel selbst kamen bisher nicht viele Reaktionen. Yuval Abrahams Investigativrecherche zu künstlicher Intelligenz hat im Westen hohe Wellen geschlagen. Die israelischen Medien haben ihn kaum erwähnt.
Ihre Leser:innenschaft insgesamt ist aber gewachsen?
Wir haben seit Oktober 2023 zehn bis zwölfmal so viele Leser:innen wie vorher. In Israel haben wir wegen der Radikalisierung der Gesellschaft einige Leser:innen verloren. Dasselbe gilt auch für die palästinensische Seite.
Warum haben Sie palästinensische Leser:innen verloren?
Viele palästinensische Aktivist:innen, vor allem in der Diaspora, argumentieren, dass es während eines Genozids gegen unser Volk keinen Raum gibt für Zusammenarbeit zwischen der jüdisch-israelischen und der palästinensischen Seite. Manche behaupten sogar, wir würden die Besatzung verharmlosen, zum Beispiel, wenn wir Artikel über junge Israelis veröffentlichen, die den Militärdienst verweigern. Wir bekommen viel Liebe und Wertschätzung, aber auch viele wütende Reaktionen. Uns wird vorgeworfen, die israelische Gesellschaft zu entlasten – als stünde in unseren Artikeln, dass die Mehrheit in Israel den Krieg und den Genozid ablehnt. Das ist sicherlich nicht, was wir vertreten.
Feinde in Windeln
Ein rassistischer Blick auf palästinensische Kinder trägt dazu bei, ihr tausendfaches Sterben in Gaza hinzunehmen.
Wie gehen Sie als Chefredakteurin von +972 damit um, zwischen diesen ideologischen Fronten zu stehen?
Das wünsche ich nicht einmal meinen schlimmsten Feinden. Ich versuche sicherzustellen, dass die zentralen Prinzipien unseres Journalismus eingehalten werden: Balance, Genauigkeit, Fact-Checking und Kontextualisierung. Jede:r kann sich kurze Videos aus Gaza auf TikTok anschauen. Das Wichtigste, was wir bieten, ist Kontext.
Viele westliche Medien wurden in der Vergangenheit dafür kritisiert, dass sie sich in ihrer Berichterstattung zu sehr an den Narrativen des israelischen Staates orientiert haben. Wie gehen Sie bei +972 mit der Frage der Objektivität um?
Wir beanspruchen nicht, objektiv zu sein. Ehrlich gesagt glaube ich, dass diese Idee aus der heutigen Welt des Journalismus fast verschwunden ist, zumindest aus der, an die ich glaube. Andererseits bin ich auch nicht hier, um ausschließlich Verfechter:innen der Zweistaatenlösung oder der Einstaatslösung eine Plattform zu geben – oder nur jenen, die an den Widerstand aus dem Volk glauben. Wir sind eine Plattform für Journalist:innen, die der Glaube vereint, dass dieses Apartheidsregime und die Besatzung enden müssen.
Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass Objektivität im Journalismus keine Rolle mehr spielt?
Ich glaube einfach, dass es heute ein größeres Bewusstsein dafür gibt, dass wir alle unser individuelles Paket mitbringen: Werte, Prinzipien und Erfahrungen. Das beeinflusst das eigene Schreiben und Berichten. Fakten überprüfen, Genauigkeit und die richtigen Fragen stellen – das sind für mich die Schlüsselprinzipien des Journalismus.
Die Verwendung von Begriffen wie „Genozid“ in Bezug auf Gaza wird in Redaktionen und zwischen Journalist:innen auf der ganzen Welt diskutiert. Wie gehen Sie bei +972 mit dieser Frage um?
Manche unserer Autor:innen nennen den Gazakrieg einen Genozid. Andere nennen es das schlimmste Kriegsverbrechen des 21. Jahrhunderts. Wir verwenden verschiedene Begriffe.
Wie würden Sie die Entwicklung von +972 seit dem Gründungsjahr 2010 beschreiben?
Aus einem linken, hauptsächlich jüdisch-israelischen Blog hat sich eine Plattform mit vielen palästinensischen Stimmen entwickelt. Heute kommen in manchen Monaten sechzig Prozent unserer Artikel von Palästinenser:innen. Die größte Herausforderung ist heute, unsere Rolle zu definieren. Wir wurden von der Gewalt, die wir hier täglich erleben, überrollt. Heute sehen wir, dass Palästinenser:innen – egal ob sie der Fatah, der Hamas oder gar keiner Organisation angehören – von der Debatte über Lösungen ausgeschlossen werden. Darum brauchen wir mehr Stimmen von vor Ort. Wir brauchen nicht nur eine politische Lösung. Wir brauchen einen Prozess der Versöhnung. Das Magazin kann ein Modell und eine Plattform dafür sein.
Ghousoon Bisharat ist die Chefredakteurin des Magazins +972. Sie verfügt über mehr als 25 Jahre Erfahrung in den Bereichen Journalismus, Kommunikation, internationale Zusammenarbeit und Interessenvertretung. Zuvor war sie zwischen 1999 und 2008 als Nachrichtenproduzentin für ABC News, Sky News und Al Jazeera English tätig.
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