"Der konfessionelle Föderalismus ist gefährlich und separatistisch"

Die Spirale der Gewalt im Irak dreht sich weiter. Im Interview mit Youssef Hijazi spricht der irakische Sozialwissenschaftler Faleh Abdul-Jabar über die Hintergründe und stellt verschiedene Formen eines möglichen Föderalismus für den Irak vor.

Anschlag im Bagdader Stadtteil Sadr City im Juni 2006; Foto: AP
Anschlag im Bagdader Stadtteil Sadr City im Juni 2006

​​Dr. Jabar, Sie schrieben 2003, kurz vor Kriegsanfang, in der französischen Zeitung Le Monde, dass den Irak ein finsterer Albtraum erwarte, nämlich ein Bürgerkrieg. Hat sich Ihre Voraussage bewahrheitet?

Faleh Abdul-Jabar: Das, was wir im Irak erleben, ist ein Mini-Bürgerkrieg. Das ist die Taktik einiger fundamentalistischer und irakischer sowie nichtirakischer Kräfte, die die Balance in Bagdad neu definieren wollen. Sie ist Teil einer größeren Strategie, die die Destabilisierung des Landes zum Ziel hat. Die Absichten der Kräfte, die im Land Gewalt ausüben, sind genauso vielfältig wie die Kräfte selbst. Die Lage ist schmerzhaft, die ungezügelte Gewalt zielt auf einfache, weiche Ziele.

Es trifft vor allem die Zivilisten: Wenn du Schiit bist und in einer sunnitischen Gegend lebst, wirst du getötet oder vertrieben; bist du Sunnit und lebst in einer überwiegend schiitischen Gegend, geschieht dir dasselbe. Es gibt eine konfessionelle Säuberung.

Die ehemaligen Baathisten, die fundamentalistischen Salafiten, einige bezahlte Mafiabanden sowie lokale Fanatiker haben damit begonnen. Jeder hat seine eigenen Ziele: Die Baathisten wollen die Macht zurückerobern, die Fundamentalisten führen ihren globalen Krieg, und einige Kräfte verfolgen konfessionelle Absichten im engeren Sinn. Die Schlacht wird um Bagdad geschlagen, und sie ist eine Fortsetzung der Gewalt, die anfangs gegen die Besatzung gerichtet war und sich nach und nach zu einer Gewalt gegen die Iraker selbst entwickelt hat.

Gibt es einen Weg aus der Gewaltspirale?

Abdul-Jabar: Zunächst muss man fragen, wer die Gewalt hauptsächlich schürt. Die erste und größte Gruppe sind die ehemaligen Offiziere der irakischen Armee und die hohen Staatsbeamten, die das Land verwaltet haben. Sie sind nicht unbedingt Baathisten beziehungsweise Anhänger von Saddam Hussein, aber sie wurden von US-Zivilverwalter Paul Bremer unwürdig entlassen. Sie haben ihren Krieg auf die Amerikaner konzentriert, und sie haben eine gewisse Legitimation. Ich habe im Juli 2003 fünfunddreißig hohe Offiziere im Irak interviewt und feststellen können, dass sie keine Finanzmittel haben, jedoch viel Erfahrung.

Die besiegten Baathisten bilden die zweite Gruppe. Hier sind sowohl die Mitglieder des Stammesverbands von Saddam Hussein als auch die ideologische Baath-Partei gemeint. Beide wollen zurück zur Macht. Sie hätten genauso reagiert, wenn die Veränderungen intern und nicht amerikanisch angestoßen worden wären. Sie hatten das Land bereits durch drei Kriege ruiniert.

Die Salafisten – also Anhänger von Sarkawi und Seinesgleichen - bilden die dritte Gruppe.

Zudem gibt es die einheimische Muslimbruderschaft als relativ gemäßigte islamische Strömung. Ihre Ziele sind klar: Sie wollen an der Macht teilhaben und gleichzeitig die Besatzer vertreiben. Darüber hinaus gibt es Mafiagruppen, die als Handlanger der Baathisten fungieren.

Welcher politische Weg ist in Anbetracht dieser Analyse denkbar?

Abdul-Jabar: Die Entwicklung im Irak hat sich nicht stufenweise vollzogen, sondern durch einen Bruch, und dies führt zu Explosionen. Deshalb werden wir den Preis für die lange Diktatur und die darauf folgende Zerstörung bezahlen, genauso wie wir den Preis bezahlen werden für die Besatzung, die eine abrupte und plötzliche Veränderung in der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hervorgerufen hat.

Faleh Abdul-Jabar; Foto: privat
Faleh Abdul-Jaber: "Das, was wir im Irak erleben, ist ein Mini-Bürgerkrieg."

​​Derzeit bedarf es einer weiteren Beteiligung an der Macht und der Rückkehr der institutionellen Kräfte – der ehemaligen Armeeoffiziere, Verwaltungsbedienstete usw. in ihre Ämter. Es bedarf politischer Reformen, und die Iraker müssen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen, so dass die Amerikaner schrittweise und friedlich das Land verlassen.

Wenn sie es nicht friedlich tun, dann können wir durch Generalstreiks, Kundgebungen und ähnliche Aktionen ohne Waffengewalt protestieren. Weiterhin müssen wir uns darum bemühen, uns der ausländischen Fundamentlisten und der Sippen-Baathisten, die das Land beraubt haben, zu entledigen. Doch die Lösung wird nicht über Nacht kommen.

Beobachten Sie auch ein verstärktes Gefühl der Zugehörigkeit zu Konfessionen und Ethnien statt zum Staat?

Abdul-Jabar: Ja und nein! Ja in dem Sinne, dass die konfessionellen Identitäten die Oberhand bei der politischen Mobilisierung haben. Das ist mittlerweile bei allen islamischen politischen Kräften der Fall. Die islamische Politik im Irak ist per definitionem konfessionalistisch. Ihre Gefolgschaft sind die armen Schichten der Gesellschaft, und diese sind während der von den USA diktierten Blockade breiter geworden.

Damit war die Schicht zerschlagen, die in der Lage gewesen wäre, die zivile und demokratische Entwicklung im Land voranzutreiben. Diese Schicht ist verarmt und versucht ihren Platz mit allen Mitteln wiederzugewinnen. Deshalb sind ihre derzeitigen politischen Aktionen gewalttätig und blutrünstig.

Der Konfessionalismus bleibt jedoch ein Mittel für die politische Mobilisierung, um die Macht innerhalb eines vereinten Irak zu erhalten, und nicht um sich abzuspalten. Man muss es so verstehen: Irakischer Patriotismus bedeutet, den Irak vereint zu bewahren, und der Konfessionalismus ist ein Mittel, um einen größeren Teil der politischen Macht und der Ressourcen im Rahmen eines vereinigten Irak zu erhalten.

Deshalb finden wir beide Ebenen bei ein und derselben Person oder innerhalb eines bestimmten Lagers. Aber wenn die konfessionalistische Sprache dominiert, entsteht der Eindruck, als gäbe es keinen "patriotischen" Diskurs im Irak.

Wie sieht denn der patriotische Diskurs im Zeichen des konfessionalistischen Diskurses aus?

Abdul-Jabar: Es gibt viele Beispiele: Wir haben derzeit eine islamisch-schiitische Regierung im Irak. Wenn aber Iran sich einmischt, protestiert diese Regierung. Wie bewerten wir diese Haltung? Wie erklären wir es, wenn diese Regierung jeden Quadratmeter irakischen Bodens verteidigt? Was bedeutet die Forderung des schiitischen Ministerpräsidenten, die nationale Flagge auch in Kurdistan zu hissen? Die Idee des irakischen Patriotismus ist nicht neu, sie geht auf die Anfänge des zwanzigsten Jahrhunderts zurück.

Eignet sich der Föderalismus als Lösung für die Frage "Minderheiten und Mehrheiten" im Irak?

Abdul-Jabar: Ja und Nein. Der Föderalismus ist als eine Neuordnung des demokratischen Systems entstanden mit dem Ziel, das Machtmonopol der Zentralregierung zu verringern. Die Gewaltenteilung gilt seit Montesquieu als Grundlage der modernen Gesellschaft.

Hinzu kam später eine neue Teilung, nämlich die Aufteilung der exekutiven Gewalt zwischen der Zentralregierung und den Ländern. So diente der Föderalismus der Entwicklung des demokratischen Systems und gab den Minderheiten in den Ländern ihr Recht zur Selbstbestimmung.

Im Irak wurden die Selbstbestimmung oder der Föderalismus oder die konstitutionelle Demokratie als Formen für die Lösung der ethnischen Frage diskutiert. Auf der einen Seite bietet der Föderalismus eine Lösung für die kurdische Frage im Irak. Doch auf der anderen Seite gibt es turkmenische und assyrische Minderheiten innerhalb der kurdischen Gebiete, die ihre Rechte fordern.

Solange es keine Zuversicht in dieser Hinsicht gibt, wird dies für den Föderalismus nachteilig sein und der Zentralregierung zusätzliche regionale Probleme bereiten. Denn die Türkei wird sich provoziert fühlen, wenn die Turkmenen in Bedrängnis geraten. Das heißt, es wird ein neues Problem geschaffen an Stelle eines alten, wobei das neu geschaffene Problem jedoch das kleinere Übel ist.

Aber es gibt auch Stimmen, die zu einem Föderalismus auf der Grundlage der Konfessionszugehörigkeit aufrufen …

Abdul-Jabar: Ja, es wird über einen schiitischen Föderalismus diskutiert, aber er ist ein Verwaltungsföderalismus. Der Süden wurde von den vorherigen Regierungen stark vernachlässigt. Es gibt Städte, die keine Krankenhäuser und kein Wasser haben. Der Irak ist ein Ölstaat, doch während man in Bagdad die modernsten Bauten, Straßen und Autos sieht, gibt es auch Orte, die nicht einmal eine Wasserversorgung haben. Es ist, als ob man mit einem Sprung von Bangladesch nach New York fliegen würde, und das im gleichen Staat.

Das ist schmerzhaft für die Menschen dort, und sie glauben, die Gründe dafür im Konfessionalismus zu finden: "Keiner kümmert sich um uns, weil wir Schiiten aus dem Süden sind". Deshalb entstand in Basra ein starker Drang zum Föderalismus, denn dort befindet sich 75 Prozent des irakischen Öls und gleichzeitig die ärmste Stadt Iraks.

In der großartigen Metropole Basra mit ihrer großen Geschichte findet man abgestandene Gewässer auf den Straßen, Trinkwasser gibt es seit 15 Jahren nicht. Aus diesen Gründen kommt der dortige Drang zum Dezentralismus. Es ist ein Verlangen nach Gerechtigkeit und nach der gerechten Verteilung der Ressourcen.

Es gibt aber noch ein anderes Verständnis des Föderalismus innerhalb der schiitischen Reihen …?

Abdul-Jabar: Ja, es gibt eine andere Forderung von Aziz Al Hakim aus Nadschaf. Er hat eine Iran-nahe Agenda und fordert eine große schiitische Föderation, bestehend aus neun Provinzen, deren Präsident er sein will. Es gibt jedoch sehr starke Kräfte innerhalb des schiitischen Lagers, die sich dagegen wehren.

Daher haben wir zwischen drei föderalistischen Tendenzen im Irak zu unterscheiden:

Der kurdische Föderalismus, der Verwaltungsföderalismus des Südens und der konfessionelle schiitische Föderalismus. Die beiden ersten haben ihre Vorteile. Mit dem ersten könnte man die ethnische Frage lösen, mit dem zweiten das Verteilungsproblem der Ressourcen.

Die dritte Form lehne ich ab. Der konfessionelle Föderalismus ist gefährlich, separatistisch und gegen den Irak. Er beinhaltet zudem eine regionale Agenda, und eine Agenda für ein rückständiges und stark konservatives islamisches System.

Welche tatsächlichen Wesensmerkmale hätte ein erfolgreicher föderaler Staat im Irak?

Abdul-Jabar: Hier steckt das Problem. Es gibt eine neue Theorie einer konstitutionellen Demokratie. Montesquieu und John Locke, die Vertreter der Theorie der klassischen Demokratie, sprechen von einer gegenseitigen Einwilligung und vom Regieren einer gewählten Mehrheit. Das ist in homogenen Staaten problemlos, zum Beispiel wenn alle weiß, alle Christen und alle evangelisch sind, dann wird die Regierung weiß, christlich und evangelisch sein.

Aber wenn das Land inhomogen ist und es eine Mehrheit gibt, dann wird sich diese Bevölkerungsmehrheit auch in einer politischen Mehrheit niederschlagen. Daraus resultiert ein ethnokratisches System, das heißt, die Alleinherrschaft einer großen Volksgruppe.

Um einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden, wo die einfache klassische Demokratie zur Vorherrschaft einer Gruppe über die Anderen führt, wurde die konstitutionelle Demokratie erfunden. Es ist eine europäische Erfindung, die zur Lösung tatsächlicher Probleme etwa in Holland, der Schweiz oder in Belgien entstand, und zwar nach einer langen Phase der Demokratie. Man hat dort festgestellt, dass die einfache Demokratie nicht ausreicht.

Kann man diese Erfahrung ohne weiteres auf eine andere Weltregion übertragen? Ist nicht einst die Übertragung von nationalistischen und sozialistischen Ideen gescheitert?

Abdul-Jabar: Wir haben damals Dinge gefordert, die den Kern der konstitutionellen Theorie bilden, ohne überhaupt zu wissen, dass es diese Theorie gibt. So wollten wir etwa eine Regierung der nationalen Einheit. Was heißt das eigentlich? Es heißt eine Regierung mit breiter Vertretung.

Arendt Lijphart, Lembruch und andere Theoretiker des Konstitutionalismus haben darüber in den siebziger und achtziger Jahren geschrieben. Sie nannten eine Koalitionsregierung eines breiten Bündnisses, die die Mehrheitspartei und andere einbezieht, als erste Bedingung.

Was ist eine Regierung der nationalen Einheit? Es ist eben dieses Prinzip. Das bedeutet, dass die Menschen das schaffen, was sie in der Realität brauchen. Der Sozialismus ist eine Zukunftsvision. Aber Nationalismus, Konstitutionalismus und Demokratie sind Theorien, die nach der Entstehung der politischen Systeme aufkamen, nicht vorher. Sie sind aus den politischen Systemen formuliert, nachdem diese sich kristallisiert haben.

Nehmen wir etwa die Quotenregelung in den Ministerien. Wir haben gefragt, wie es dazu kommt, dass, wenn der Außenminister aus der Stadt Anbar stammt, dann auch alle Angestellten dieses Ministeriums aus der gleichen Stadt kommen. Warum nicht aus Mosul und aus Bagdad?

Diese Forderungen hatten wir schon vor zwanzig Jahren gestellt. Später haben wir entdeckt, dass das Prinzip der Quotenregelung in einer Theorie formuliert ist. Das breite Bündnis, das gegenseitige Vetorecht zwischen den Minderheiten und der Mehrheit, die Beratung und die Selbstverwaltung der eigenen Angelegenheiten jeder Volksgruppe, all diese Dinge existieren tatsächlich.

Man muss sie nur anerkennen und die Gründe ihres Erfolgs und ihres Scheiterns studieren. Sie müssen im Grundgesetz verankert werden, in Institutionen angewandt werden und den Leuten eine Chance lassen, über darüber zu reflektieren, damit sie sehen, was die Anderen gemacht und wo sie versagt haben. Vielleicht werden wir etwas Neues erfinden, wer weiß. Wir mögen Erfolg haben oder nicht, aber das ist der Weg.

Interview und Übersetzung aus dem Arabischen Youssef Hijazi

© Qantara.de 2006

Faleh Abdul-Jabar ist Sozialwissenschaftler. Er leitet das "Iraq Institute for Strategic Studies" in Beirut und hat mehrere Bücher auf Englisch und Arabisch zu Sozialismus, Demokratie und Islam veröffentlicht.

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