"Das Attentat auf 'Charlie Hebdo' war wie ein verspätetes Erwachen"
Am 7. Januar 2015 stürmten die Terroristen Saïd und Chérif Kouachi die Redaktionsräume der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und ermordeten zwölf Menschen.
Einen Tag später schritt auch der mit den Kouachi-Brüdern befreundete Amedy Coulibaly zur Tat. Am 8. Januar erschoss er eine Polizistin im Pariser Vorort Montrouge, am 9. Januar überfiel er einen koscheren Supermarkt, in dem vor allem Juden einkaufen. Bei der anschließenden Geiselnahme kamen vier Menschen ums Leben.
Fünfeinhalb Jahre nach den Morden beginnt in Paris der Prozess gegen 14 mutmaßliche Hintermänner der Anschläge, die Attentäter selbst wurden bei Polizeieinsätzen getötet. Der Politikwissenschaftler Hugo Micheron wird während des Prozesses im Publikum sitzen. Er erforscht die Entstehung terroristischer Netzwerke in Frankreich. Im Januar ist sein Buch "Le Jihadisme français. Quartiers, Syrie, Prisons" (Der französische Dschihadismus. Quartiers, Syrien, Gefängnisse) erschienen. Das Buch ist aus seiner Doktorarbeit hervorgegangen, für die er in französischen Gefängnissen 80 selbsterklärte Dschihadisten interviewt hat.
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Was erhoffen Sie sich als Wissenschaftler vom "Charlie Hebdo"-Prozess? Und was bedeuten die kommenden 50 Verhandlungstage für die französische Gesellschaft?
Hugo Micheron: Wie wichtig der Prozess ist, kann man auch daran sehen, dass er vollständig gefilmt und archiviert wird, das geschieht nur, weil der Prozess schon jetzt als historisch gilt. Mich persönlich interessiert es zu verstehen, wie sich dschihadistische Strukturen lokal verankern. Wie es dazu kommt, dass so extremes Gedankengut in manchen Umfeldern als normal gelten kann. Für die französische Bevölkerung ist der Prozess wichtig, weil er zeigt, dass der Staat wieder Herr der Lage ist. Vor fünf Jahren war es, als würde das Land in seinem Herzen getroffen. Die Kouachi-Brüder waren nach dem Attentat 48 Stunden auf der Flucht, der Staat wirkte ohnmächtig. Dieses Gefühl der Fassungslosigkeit und Lähmung zu verbreiten, ist ja ein Ziel der Terroristen.
Sie argumentieren in Ihrem Buch, man solle den Dschihadismus nicht als ein Phänomen der Banlieues interpretieren, also nicht als eine Folge von Armut und Perspektivlosigkeit.
Micheron: Ja, diese Theorie, dass Dschihadismus ein Produkt der sozialen Ungleichheit sei, ist falsch. Diese Idee wird in Frankreich von zwei Lagern vertreten. Von den Linken, die das Problem kleinreden wollen. Und von Rechten, die Hysterie verbreiten und die Einwanderung mit Kriminalität gleichsetzen und Muslime mit dem Islamismus. Das Lager der Leugner sieht den Grund dafür, dass aus Europa 5.000 Menschen nach Syrien gereist sind, um sich dem IS anzuschließen, darin, dass Muslime diskriminiert und benachteiligt werden. Die Attentate werden dann als Rache an der westlichen Gesellschaft interpretiert.
Das Lager der Hysteriker erklärt hingegen jede arme Vorstadt zur Brutstätte der Salafisten. Doch wenn man sich genauer anschaut, von wo aus die Menschen losgefahren sind, die in Syrien für ein "Kalifat" kämpfen wollten, dann ergibt sich eine ganz eigene Geografie. Es sind eigentlich nur zehn Orte, aus denen der Großteil der Attentäter und Dschihadisten rekrutiert wurde. Dazu gehören Städte der Pariser Banlieue aber auch die südfranzösische Kleinstadt Lunel. Und gleichzeitig gibt es aus den Vorstädten von Marseille, die in der Theorie alles vereinen, was man sich als Faktoren der Radikalisierung vorstellt, muslimische Mehrheit, hohe Arbeitslosigkeit, keine einzige Ausreise Richtung Syrien. Ich sage nicht, dass die soziale Diskriminierung nicht existiert. Ich sage aber, dass es nur einer von verschiedenen Faktoren ist.
Was sind die anderen Faktoren?
Micheron: Indoktrinierung und Propaganda. Salafismus und Dschihadismus sind in Frankreich nicht vom Himmel gefallen, sie werden aktiv verbreitet. Ich habe zum Beispiel ausführlich mit Mitgliedern der Familie Clain aus Toulouse gesprochen, zum Islam konvertierte Katholiken, die gezielt eine salafistische Struktur aufgebaut haben. Die Familienmitglieder sagen von sich selbst, sie würden jeden einzelnen Tag dafür kämpfen, neue Anhänger zu gewinnen. Dafür wurden Sportclubs gegründet und Vereine, es wurden Kontakte zu radikalen Predigern geknüpft. Islamistische Terroristen werden oft als Verrückte dargestellt, als Leute, die gar nicht richtig wissen, was sie tun. Auch die Clains wurden in ihrem Umfeld am Anfang verspottet. Sie haben aber trotzdem Menschen von ihrer Ideologie überzeugt. Als Fabien Clain nach Syrien gefahren ist, wurde er sofort innerhalb der Hierarchie des IS akzeptiert, weil klar war, dass er in Frankreich Einfluss hat.
Sie beschreiben, wie diese Netzwerke in Frankreich von der Öffentlichkeit weitestgehend unbeachtet entstanden. Wie konnte das sein?
Micheron: Das Attentat auf Charlie Hebdo 2015 war wie ein verspätetes Erwachen. Auf einmal wurden islamistische Strukturen sichtbar, die sich innerhalb von 15 Jahren entwickelt hatten. Die ersten Dschihadisten, die in Frankreich begannen, ihre Ideen zu verbreiten, waren Kämpfer aus dem algerischen Bürgerkrieg und aus Afghanistan. Das waren ganz kleine Gruppen, drei, vier Leute. Ihre Rekrutierungsversuche wurden nach dem Anschlag auf das World Trade Center einfacher, 2001 war ein Wendepunkt. In Frankreich wirkte zudem das Attentat von Mohammed Merah wie ein ideologischer Brandbeschleuniger. Merah hat 2012 in Toulouse an einer jüdischen Schule vier Menschen ermordet, darunter drei Kinder, und zuvor drei Soldaten getötet. Damals wurde das als Einzelfall gewertet, 2015 wurde verstanden, dass damals eine Serie islamistischer Anschläge begann.
Was ist die Bedeutung der Gefängnisse für die Entstehung terroristischer Strukturen?
Micheron: Unsere Gesellschaft betrachtet einen Gefängnisaufenthalt als größtmögliche Strafe. Doch innerhalb der dschihadistischen Logik ist er das nicht. Eine Haftstrafe wird als Gottesprüfung interpretiert und als eine Chance, sich selbst weiterzubilden, weil man die Zeit hat zu lesen. Die Dschihadisten, die ich interviewt habe, sehen die Zeit im Gefängnis als eine Chance, intellektuell und auch innerhalb ihrer Hierarchien aufzusteigen. Die meisten inhaftierten Dschihadisten, mit denen ich gesprochen habe, werden innerhalb der nächsten zwei Jahre freikommen. In den Gefängnissen sitzen Hunderte, die als islamistisch radikalisiert gelten.
Wie gehen die Gefängnisse damit um?
Micheron: Frankreichs Gefängnisse sind dramatisch überfüllt, in manchen Anstalten leben fast doppelt so viele Menschen, wie Haftplätze vorgesehen sind. Und von 2014 bis 2019 wurden in den besonders überlasteten Gefängnissen im Großraum Paris die Rückkehrer aus Syrien gesammelt. Das hatte dramatische Folgen. Das Gefängnis Fleury-Mérogis wurde so weit destabilisiert, dass die Gefängnisverwaltung einige Tage lang Angst hatte, die Kontrolle über die Gefangenen zu verlieren.
Was die Maßnahmen zur Deradikalisierung betrifft, beschreiben Sie unter anderem, wie verurteilte Terroristen ein Frettchen streicheln sollten, um sich des Wertes einzelnen Lebens wieder klar zu werden.
Micheron: Ich habe das Buch geschrieben, mit dem festen Vorsatz, mich weder über den Strafvollzug noch über die Dschihadisten lustig zu machen. Dafür ist das Thema viel zu ernst. Aber ich wollte mit diesem Beispiel des Frettchens zeigen, dass diese Deradikalisierung eben oft schiefläuft. Unter anderem, weil man im Strafvollzug diejenigen für die gefährlichsten hält, die eine Bombe zünden. Ohne zu bemerken, dass es unauffällige Häftlinge gibt, die gezielt Mitinsassen rekrutieren. Sowohl die Kouachi-Brüder als auch Coulibaly wurden im Gefängnis indoktriniert.
Hat sich seitdem etwas verbessert?
Micheron: Inzwischen ist man dazu übergegangen, Häftlinge mit islamistischen Überzeugungen nicht mehr in extra dafür eingerichteten Trakten zusammenzusperren, sie werden jetzt auf mehr als 70 Gefängnisse verteilt. Das hat die Situation entzerrt. Die Attentate vom Januar 2015 haben etwas sichtbar gemacht, was nicht aufgehört hat. Die Terroristen sind heute zahlreicher als 2015. Aber im Vergleich zu damals haben wir jetzt den Vorteil, dass wir wissen, wie ihre Netzwerke funktionieren und worauf ihre Ideologie basiert. Wir haben unsere intellektuelle Verspätung aufgeholt.
Das Interview führte Nadia Pantel.
© Suddeutsche Zeitung 2020