Meinungsbildung durch Internet?

Hat das Internet eine strukturelle Veränderung der arabischen Gesellschaften bewirkt? Dieser Frage ging der Islamwissenschaftler Albrecht Hofheinz in einem Forschungsprojekt am Zentrum Moderner Orient in Berlin nach. Mit ihm unterhielt sich Youssef Hijazi.

Hat das Internet eine strukturelle Veränderung der arabischen Gesellschaften bewirkt? Dieser Frage ging der Islamwissenschaftler Albrecht Hofheinz in einem Forschungsprojekt nach. Mit ihm unterhielt sich Youssef Hijazi.

Albrecht Hofheinz, Foto: Youssef Hijazi
Albrecht Hofheinz

​​Das Forschungsprojekt von Dr. Albrecht Hofheinz am ZMO untersucht die Auswirkungen des Internets auf soziale und politische Prozesse in der arabischen Welt. Die Cyberwelt wird in den Zusammenhang sozialen Handelns gestellt, um besser zu erkennen, welche möglichen Effekte 'virtueller’ Veränderungen sich in der 'realen’ Welt abzeichnen. Anhand der zunehmenden Nutzung des Internets im islamisch-arabischen Raum untersuchte Hofheinz u.a. folgende Fragestellungen: Ist eine strukturelle Veränderung der Öffentlichkeit im Gange? Gibt es einen neuen Umgang mit religiösen und politischen Fragen? Welche Vernetzungen und Wechselwirkungen entstehen zwischen transnationalen und lokalen Öffentlichkeiten?

Herr Hofheinz, Sie untersuchen seit Jahren die Internetnutzung im islamischen-arabischen Raum, wie ist die Idee zu Ihren Forschungen entstanden?

Albrecht Hofheinz: Ich habe in den 1990er Jahren in Norwegen promoviert. Dort war die technische Ausstattung für den Internetzugang an den Universitäten viel besser als in Deutschland. Ich fand das Medium an sich faszinierend und konnte die Anfänge live miterleben, als die ersten muslimischen Diasporaseiten im Internet auftauchten. Dabei ist die Idee entstanden.

Können Sie ihren Untersuchungsgegenstand kurz näher beschreiben?

Hofheinz: Die Vision der Internet-Enthusiasten der 1990er Jahre war: man braucht ein Modem, einen PC und einen Internetanschluss – dann verfügt man über die ganze Welt.

In diesem Zusammenhang entstand die Hypothese, dass der stark erleichterte Zugang zu Publikationsmöglichkeiten für viele Menschen die ganze Struktur der öffentlichen Meinungsbildung umwälzen würde. Öffentliche Debatten würden sich weltweit ausbreiten und damit auch die Meinungsbildung in den arabisch-islamischen Ländern einschneidend verändern. Diese Entwicklung hätte eine doppelte emanzipatorische Folge: nämlich eine breitere Beteiligung großer Bevölkerungskreise an der Meinungsbildung und damit zusammenhängend in einem zweiten Schritt eine stärkere Partizipation an Entscheidungsprozessen.

Das hört sich an, als ob das Internet die Demokratie verbreite?

Hofheinz: Die These, die ich in meinem Forschungsprojekt überprüfen wollte, war, dass durch das Internet mehr Leute an Meinungsbildungsprozessen teilnähmen und sich mehr einbringen könnten. Dadurch würde implizit die Hegemonie traditioneller Hierarchien und Autoritäten über die Meinungsbildung bedroht.

Für die Internetnutzer würde es dann immer selbstverständlicher, sich selbst eine Meinung zu bilden und nicht einfach nur in einer autoritativen Quelle nachzuschlagen und der dort vorgefundenen Meinung ungefragt zu folgen. Indem die Nutzer selbst Kommentare zu den Veröffentlichungen Anderer abgeben und Lösungen in weniger hierarchischem Stil diskutiert würden, würde sich eine gesellschaftliche Dynamik entwickeln, die inhärent dazu beitragen würde, einen stärkeren Druck auf die Demokratisierung von Entscheidungsprozessen auszuüben. Das ist die Ausgangshypothese dieses Forschungsprojekts gewesen.

Einige Beobachter bezweifeln oft diese Demokratisierung und behaupten, die Leute chatten nur oder suchen im Netz nach Pornobildern.

Hofheinz: Die arabischen Internetnutzer werden dabei implizit dequalifiziert. Das ist nicht meine Absicht – im Gegenteil. Tim Berners-Lee, der "Vater" des WorldWideWeb, gab vor kurzem auf dem Weltinformationsgipfel in Genf einer großen Hoffnung Ausdruck. Er sagte, abgesehen von einigen kulturellen Sonderheiten zeigt uns das Internet unter dem Strich, dass wir eben nicht sehr verschieden sind. Dies ist auch ein wichtiges Ergebnis meiner Arbeit. Wenn die Leute chatten oder Pornobilder angucken, so verfolgen sie Interessen, die weltweit mehr oder weniger von der gesamten Menschheit geteilt werden: nämlich das Interesse an Kommunikation mit Freunden, an der Erweiterung des Bekanntenkreises durch Nutzer, die nicht unbedingt in der Nachbarschaft wohnen, aber die gleichen Interessen haben. Oder das Interesse an Kommunikation mit dem anderen Geschlecht und die Durchbrechung von sozialen Barrieren des unmittelbaren sozialen Umfelds.

Den ersten PC brachte IBM 1981 auf den Markt. Schon 1982 wurde in Kuwait die Firma "Sakhr" gegründe, diet arabische IT-Lösungen anbot. Halten die Araber mit der weltweiten Entwicklung Schritt?

Hofheinz: "Sakhr" wurde gegründet, um arabischsprachige IT-Lösungen anzubieten und hat ursprünglich einen eigenen PC mit eigener Bedienungsoberfläche entwickelt. Angesichts der Marktmacht von Microsoft konnte sich diese Lösung nicht halten. Sakhr ist jetzt aber ein führender Produzent arabischer Internet-Inhalte.

Es gab etliche Konferenzen zur Standardisierung arabischer IT-Lösungen. Vorschläge seitens der arabischen Liga, Ägyptens oder Saudi Arabiens, verschiedene untereinander nicht kompatible Vorschläge auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, scheiterten. Keiner dieser Vorschläge hat sich durchgesetzt. Der Standard von Microsoft hat sich letztendlich behauptet. Dies ist wiederum bezeichnend für die Kräfte des Marktes, und wer schlussendlich das Sagen hat.

Wie hat sich die Internetnutzung in den arabischen Ländern entwickelt?

Hofheinz: Man kann nicht alle arabischen Länder über einen Kamm scheren. In den verschiedenen arabischen Ländern gab es unterschiedliche staatliche Reaktionen auf das Phänomen Internet. Inzwischen lehnt keines dieser Länder das Internet vollkommen ab. Aber manche behandeln das Phänomen restriktiver als andere. Die Länder, die sich früh für das Internet geöffnet haben, waren die klassischen wirtschaftsliberal organisierten und pro-westlichen Staaten wie Jordanien, Libanon, Kuwait, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain.

Jordanien und der Libanon galten Ende der 1990er Jahre als Paradies für die Liberalisierung des IT-Marktes, aber inzwischen sind beide Länder etwas zurückgefallen gegenüber Ägypten und den VAE. Denn diese haben von staatlicher Seite mehr Anreize geschaffen. Sie haben mehr für die IT-Infrastruktur getan, direkte staatliche Förderung hatte dort bemerkenswerte Wirkung.

Zwei IT-Zentren in Kairo und Dubai wurden gegründet, um der Wirtschaft günstige Bedingungen für die Nutzung des Netzes zu bieten. Wie sieht es mit der staatlichen Regulierung und der juristische Lage aus?

Hofheinz: Wenn man innerhalb der arabischen Welt vergleicht, findet man Länder, die völlig freien Zugang zum Internet ermöglichen, und andere, die den ganzen Netzverkehr über einen Filter laufen lassen. Sie blockieren über diesen zentralen Filter bestimmte Seiten. Wer sich technisch auskennt, kann diese Filter jedoch umgehen. Solche Filterzensur ist z.B. in Saudi Arabien, VAE und Syrien vorzufinden.

Die Saudis zum Beispiel führten erst nach langem Zögern 1999 den öffentlichen Internetzugang ein, nachdem die technischen Voraussetzungen für die Totalfilterung geschaffen waren. Die Debatte war vorher darum gegangen, wie man die saudische Gesellschaft vor schädlichen Einflüssen durch das Internet bewahren könnte. Und natürlich spielten auch Befürchtungen eine Rolle, das Netz könne das politische System im Lande bedrohen. Es wäre aber falsch zu glauben, dass die moralischen Bedenken immer nur vorgeschoben sind. Auch wenn politische Zensur oft moralisch gerechtfertigt wird, gibt es durchaus ernste Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die religiöse Identität.

Die islamischen Strömungen sind die Haupt-Stimmungsmacher in den arabischen Ländern. Wie gehen sie mit dem Internet um? Gibt es Unterschiede zu anderen Nutzern?

Hofheinz: Unter vielen muslimischen Denkern und Gelehrten gab es eine gewisse Zurückhaltung und Befürchtungen, dass das Internet zur Unterwanderung und Aushöhlung der eigenen sozialen und moralischen Normen dienen könnte. In diesem Zusammenhang gab es unter islamischem Vorzeichen eine Diskussion, die andernorts unter anderen Vorzeichen geführt wurde.

Zum Beispiel in Asien, aber auch in Europa und überall dort, wo man sich vorstellt, dass das Internet zur Homogenisierung der Kulturen beiträgt. Das heißt konkret unter den vorgegebenen Machtverhältnissen, es werden westliche bzw. amerikanische kulturelle Werte und Inhalte verbreitet. Diese Diskussion ist bis heute nicht abgeflaut. Auf der anderen Seite waren gerade islamische Gruppen unter den ersten, die sich das Netz zunutze machten.

Sie sagten einleitend, dass die Diasporagruppen von Anfang an dabei waren. Was war damals anders?

Hofheinz: Die islamischen Diasporagruppen gingen ins Netz, als es im Nahen Osten noch kein Internet gab. Hier gab es auf der einen Seite Befürchtungen, andererseits wurden schnell die Chancen erkannt, die eigene Botschaft zu verbreiten. Das hat sich zunächst bei den von der Diaspora erstellten Internetseiten in Amerika gezeigt. Später wiederholte sich das dasselbe im Nahen Osten.

Sind Sie nur auf Web-Seiten mit islamischen Inhalte gestoßen?

Hofheinz: Wenn ich sehr schematisch aufteile: Islamisten hier – Säkularisten dort, dann waren die Islamisten bisher wesentlich präsenter, flinker und hatten mehr Geld und Beziehungen. Ich möchte jetzt nicht sagen, dass sie genau so zahlreich in der Gesellschaft vertreten sind. Auf jeden Fall aber sind sie es virtuell bei den Internetauftritten und Veröffentlichungen überhaupt.

Bei der Analyse der 100 populärsten arabischen Webseiten findet man zehn dezidiert religiös islamisch ausgerichtete Seiten mit einer religiös-sozialen Botschaft und teilweise auch mit einer politischen. Ein Unikum weltweit, weil es das in anderen Sprachen nicht gibt, wo religiöse Seiten nicht unter den Top 100 zu finden sind.

Warum reden Sie nur von den islamischen Gruppen?

Hofheinz: Nein, das ist ein Missverständnis. Ich meine, es stimmt, dass das 'arabische Internet’ eine größere Rolle der Religion widerspiegelt, als wir das aus anderen Gesellschaften kennen. 10% der populärsten Seiten sind dezidiert religiös. Aber es sind eben auch 'nur’ 10%, d.h., das Phänomen Religion muss im Gesamtkontext gesehen und darf nicht überbewertet werden.

Sie verwenden die beängstigenden Begriffe "Digitaler Dschihad" und "E-Dschihad". Was ist das?

Hofheinz: Der Begriff "Digitaler Dschihad" tauchte in den 1990er Jahren auf. Das hatte erstmal nichts mit Hacking zu tun, sondern war einfach Dschihad per Internet. Dschihad heißt zunächst einmal sehr weit gefasst "Anstrengung für den Islam", hier also mit Hilfe des Mediums Internet. Es waren Diasporagruppen – muslimische Studenten – in Amerika, die meines Wissens diesen Begriff zum erstem Mal verwendet haben. Ihr Ziel war die Mobilisierung der öffentlichen Meinung zu Gunsten von Mudschahidin (also von physischen Mudschahidin) bzw. wenn man das so übersetzen darf, von Befreiungsbewegungen in der islamischen Welt wie in Kaschmir, Bosnien und Tschetschenien. Das waren damals die großen Schlagworte. Das Hacking 'feindlicher' Internet-Sites kam dann in größerem Stil erst 2000 mit Beginn der zweiten Intifada in Palästina auf, übrigens von Seiten der Israelis wie der Palästinenser.

Man muss jedenfalls unterscheiden zwischen den tatsächlichen Aktivitäten und der Wahrnehmung in der hiesigen deutschen oder westlichen Öffentlichkeit. Nach dem 11. September gab es in den westlichen Medien eine Mischung aus Sensationslust und Panikmache in der Berichterstattung über Internetnutzung in der islamischen Welt, die den Blick auf die tatsächliche Realität oft verschleiert.

Wenn Sie die Macht im Netz Microsoft zuschreiben, wie kann da eine Demokratisierung entstehen?

Hofheinz: Indem ich im Internet tendenziell selbst entscheide, was ich mir ansehe und was nicht und was ich lese und schreibe oder nicht lese und schreibe. Ich bin tendenziell zumindest zunehmend selbst Herr meiner Informationsentscheidung. Ich muss gleich dazu sagen, dass auch das ein idealisiertes Bild ist. Ich weiß um die Medienmacht gerade von Microsoft und anderer Medienkonzerne. Deren Einfluss ist deutlich größer als der staatliche, im Unterschied zu den traditionellen Medien.

Aber selbst wenn Microsoft und Co. 30 Prozent des Angebots im Internet beherrschen, und selbst wenn sehr viele Leute aus verschiedenen wirtschaftlich-technischen Gründen zunächst mal eine Microsoft-Seite anklicken und Microsoft dadurch tendenziell zur primären Informationsquelle zu werden droht, so ist doch das Konkurrenzangebot für diejenigen, die sich ein bisschen auskennen, nur einen Klick entfernt. Auch beim Eingeständnis der Marktmacht von großen Medienkonzernen glaube ich nicht, dass ein Konzern alles kontrolliert. Es wird immer eine Gegenentwicklung geben, und es ist im Internet nach wie vor leichter als in anderen Medien, diesen Gegenstimmen auch Ausdruck zu verleihen. Mit dem Wachstum des Mediums wird es einerseits größere Marktmächte geben, aber auch eine größere Pluralisierung.

Kehren wir zu ihrer Anfangsthese zurück. Konnten Sie eine strukturelle Veränderung in der arabischen Gesellschaft feststellen?

Hofheinz: Die Anfangshypothese hat sich so kurzfristig unmittelbar nicht bewahrheitet. Aber das heißt nicht, dass alle Chancen dahin sind. Ich würde sagen, die Ausgangshypothese war in ihrer Radikalität naiv. Allein durch die Einführung des Mediums eine politische Umwälzung zu erwarten, war sowieso naiv. Man muss schauen, welche Sozialisationsprozesse durch das Internet befördert werden.

Die Tendenz ist klar: das Internet stärkt die Rolle und das Selbstbewusstsein des Subjekts. Selbst das Chatten der Jugendlichen ist nicht zu unterschätzen. Es ist einfacher, dort öffentlich über Themen zu reden, die bisher nur unter Freunden besprochen wurden.

Nach wie vor meine ich, dass das zu einer Veränderung der politischen Kultur führen wird. Nicht unbedingt zu einer radikalen Umwälzung und nicht alleine durch das Internet, aber das Internet ist auf jeden Fall ein wichtiger Faktor.

Interview: Youssef Hijazi

© Qantara.de 2004

Der Islamwissenschaftler Dr. Albrecht Hofheinz wird im August 2004 einem Ruf an die Universität Oslo in Norwegen folgen. Bislang arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin und war zuvor Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.