"Was bedeutet es, britisch zu sein?"
Shaheeda, das "Hounslow Girl" in Ihrem Stück, steckt voller Widersprüche: sie trägt ein Kopftuch und geht zum Religionsunterricht in die Moschee – aber sie raucht auch Hasch und hat einen Freund, der anscheinend kein Muslim ist. Was macht sie zu einem "Hounslow Girl" und wie kamen Sie auf die Idee, über sie ein Stück zu schreiben?
Ambreen Razia: Ich hörte diesen Ausdruck das erste Mal im College. Ich war mit einer Freundin unterwegs und wir sahen diese junge Frau im Kopftuch, sehr laut am Telefon und in sehr engen Kleidern. Meine Freundin drehte sich zu mir um und sagte: "Mein Gott, ein echtes Hounslow Girl!" Seitdem hat mich das nicht losgelassen, ich wollte wissen, was das bedeutet. Meine Recherchen ergaben, dass "Hounslow Girl" ein geläufiger Ausdruck für einen bestimmten Klischee-Typ von jungen britischen muslimischen Frauen geworden ist, die hier, besonders in London aufwachsen und versuchen, zwei nebeneinander existierende Welten miteinander zu versöhnen, also einerseits an ihren traditionellen Werten festzuhalten, während sie sich andererseits auch in der britischen Gesellschaft integrieren.
Für welches Publikum haben Sie das Stück geschrieben?
Razia: Ich wollte, dass es ein sehr breites Publikum erreicht, weil ich denke, diese Art von Figur haben wir im Theater, Film oder Fernsehen bisher nicht kennengelernt. Aber vor dem Schreiben und Schauspielen hatte ich mit 12- bis 16-jährigen Mädchen gearbeitet. Ich lernte ein paar kennen, die mit 14 Mütter wurden. Die haben mich eigentlich zu diesem Stück inspiriert, und mein ursprüngliches Ziel-Publikum waren also junge Frauen, die dabei sind, erwachsen zu werden.
Es gibt ja noch ein anderes Klischee über junge muslimische Frauen – die sogenannten "Dschihadi-Bräute", die sich nach Syrien absetzen. Das einzige Mal, dass Terrorismus in Ihrem Stück vorkommt, ist als Shaheeda in der Schule nach ihrem Berufswunsch gefragt wird und antwortet: "Terroristin!" Nur ein Scherz, sie liefert sich mit ihren Freundinnen eine Art Wettbewerb um die provokativste Antwort – aber könnte es auch Wirklichkeit werden, wenn sie anderen Umgang hätte? Wie unterscheidet sie sich – religiös, wütend, abenteuerlustig, naiv, einigermaßen verwirrt – von den Teenagern, die nach Syrien verschwinden?
Razia: Ich finde, es gibt da schon eine Verbindung. Meine Shaheeda hätte diesen Weg vielleicht auch einschlagen können, weil ihr zuhause Liebe und Kommunikation fehlen. Ich denke, darauf läuft es letzten Endes hinaus. Aber dann hat sich ihr Leben anders entwickelt, sie wird mit 16 Jahren Mutter – was in gewissen Milieus eine ebenso große Schande sein kann wie nach Syrien zu gehen! Es geht mir vor allem darum, individuelle Geschichten von jungen britischen muslimischen Frauen zu erzählen. Die müssen nicht immer politisch sein.
War das einer Ihrer Beweggründe, einer bestimmten Stimme Ausdruck zu verleihen, die bisher nicht recht Gehör gefunden hat?
Razia: Genau. Als ich das erste Mal vom "Hounslow Girl" hörte, dachte ich mir, "ich muss das machen, bevor es eine Reality-TV-Show wird. Und bei mir wird sie alles in Frage stellen!". Sie ist stark, mutig, selbstbewusst. Sie hat zwar Probleme, aber im Grunde ist sie einfach ein normaler Teenager. Und eine strenggläubige junge Katholikin könnte wohl die gleichen Probleme haben. Es kann einfach schwierig sein, zwischen zwei Welten die Balance zu finden. Und so wollte ich eben einer jungen britischen muslimischen Frau eine Stimme geben, mit allen Ecken und Kanten, aber zugleich auch wie jede andere 16-Jährige.
"Integration" ist in der Einwanderungsdebatte ein großes Thema, und oft heißt es, dass die Britisch-Pakistaner nicht so gut integriert seien wie andere ethnischen Minderheiten. Im Stück zitieren Sie immer wieder den Satz "Ihr könnt zwar Briten werden, aber nie Engländer" – als eine Art Resümee der Erfahrungen der älteren Einwanderergeneration aus Pakistan. Haben Sie das in Ihrer Familie oft zu hören bekommen?
Razia: Nein, ich persönlich nicht. Aber ich habe mal eine Gruppe junger Frauen aus verschiedenen ethnischen Minoritäten gefragt, ob sie stolz auf ihre britische Identität seien. Die Hälfte sagte "nein", die andere Hälfte, "ich weiß gar nicht, was das ist." Insofern war das wohl etwas, was ich angehen wollte: "Was bedeutet es, britisch zu sein?"
Vor Kurzem ist ein Britisch-Pakistaner, Sadiq Khan, in London zum Bürgermeister gewählt worden. Wie wichtig ist das für Sie?
Razia: Ich wusste, dass diese Frage kommt! Ich finde es sehr wichtig! Ich kenne mich persönlich nicht besonders gut mit Politik aus. Aber einfach nur zu sehen, dass diese unterschiedlichen Stimmen nach oben kommen, macht mich einfach glücklich. Denn das ist es auch, was ich als Autorin versuche, unbeachteten Stimmen Gehör zu verschaffen. Egal in welchem Feld – für mich ist es ein Fortschritt, wenn wir ein breites Spektrum von Stimmen zu hören bekommen.
Ist das Ihre Vision einer britischen Identität – die verschiedene Stimmen und Erfahrungen zulässt?
Razia: Ach, ich weiß nicht… Ich glaube, wenn man einen anderen Hintergrund hat, dann wird man mit der britischen Identität vielleicht immer Schwierigkeiten haben. Obwohl es gut ist, wenn sich neue Stimmen wahrnehmen lassen, bin ich nicht sicher, ob uns das näher an die britische Identität bringt. Aber das muss es wahrscheinlich auch nicht.
Ist die ganze Obsession mit Identität dann vielleicht überflüssig?
Razia: Weil ich mit jungen Leuten gearbeitet habe, besteht meine Mission einfach nur darin, dass junge Frauen in Ruhe erwachsen werden können. Und Identität kann natürlich ein großes Thema beim Erwachsenwerden sein. Aber ich denke auch, Identität kann man sich selbst kreieren - als Londonerin zum Beispiel. Dieses ewige Bemühen um die britische Identität – ich persönlich weiß, dass ich britische Bürgerin bin, aber es kann sehr schwierig sein, weil ich eben auch das pakistanische Erbe habe. Es stellt sich wirklich die Frage, ob wir jemals komplett integriert sein können. Das Wichtigste ist doch zu wissen, wer man ist. Und das muss nicht notwendigerweise mit "Britisch-Sein" zu tun haben. Vielleicht geht es einfach darum, beide Kulturen anzunehmen, sich in der eigenen Haut wohlzufühlen und darauf stolz zu sein, woher man kommt. Stolz darauf zu sein, wo man ist, nämlich in Großbritannien, aber auch stolz zu sein auf die eigenen Wurzeln.
Wo werden die britisch-pakistanischen Teenager wie Shaheeda in zehn Jahren sein? Was ist Ihre Vision?
Razia: Sie werden Eltern sein! Meine Hoffnung ist, dass meine Generation all die Aufgeschlossenheit an den Tag legen wird, die zu britischen Muslimen in der vierten Generation passt. Ich wünsche mir, dass junge Frauen in der Lage sein werden, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich weiß, dass einige Kulturen da repressiver sind als andere. Aber vielleicht werden junge britische muslimische Frauen das "Tagebuch eines Hounslow Girls" sehen und sich denken: "Wir müssen nicht perfekt sein. Wir müssen überhaupt nichts, wir sind jung und dürfen Fehler machen." Sie haben doch die gleichen Hormone und die gleiche Energie wie andere 16-Jährige auch. Man muss einfach diese Blase der großen Erwartungen, die einen umgibt, zum Platzen bringen und sie in die Welt der anderen Teenager integrieren. Und ihnen zeigen, dass diese Emotionen und Hormone völlig normal sind.
Wie waren bisher die Reaktionen des Publikums während Ihrer Tournee?
Razia: Sehr positiv! Neulich war ein Imam im Publikum, und ich bekam stehende Ovationen von ihm. Ehrlich gesagt, als ich ihn bemerkte, dachte ich zuerst: "Was wird das wohl geben?" Doch er fand's super!
Das Gespräch führte Thomas Bärthlein.
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