''Ich liebe Israel selbst in Zeiten, wenn ich es nicht mag''
Sehnen Sie sich heute noch nach dem Kibbuz?
Amos Oz: In gewissen Momenten schon. Meine Familie und ich haben den Kibbuz Hulda vor 25 Jahren verlassen. Aber in meine Träume kehrt er noch immer zurück.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Oz: Sechs Uhr morgens an einem Werktag im Speisesaal: Alle sind da, um eine erste Tasse Kaffee zu bekommen, bevor es auf die Felder geht. Der Mann, der für die Morgenzeitungen zuständig ist, verteilt die Blätter. Die Leute trinken ihren Kaffee, schauen in die Zeitungen und diskutieren über Politik um sechs Uhr in der Frühe. Das ist ein Moment, den ich vermisse.
Einige Personen in Ihrem neuen Erzählband "Unter Freunden" tun sich eher schwer mit dem Kibbuz-Leben und passen als Individuen nicht ganz ins Kollektiv. Die Figur Roni Schindlin rastet sogar aus, nachdem sein kleiner Sohn weinend aus dem Kinderhaus wegläuft.
Oz: Der Sohn wird von anderen Jungen missbraucht und der wütende Vater vergisst seine Prinzipien, läuft zum Kinderhaus und schlägt das falsche Kind. Mich interessieren die außergewöhnlichen, nicht die normalen Leute.
Tolstoi sagt im Einstieg zu "Anna Karenina", dass alle glücklichen Familien einander ähneln, aber dass jede unglückliche Familie auf eigene Weise unglücklich ist. Ich schreibe über die Außenseiter, die Einsamen. Das Glück braucht mich nicht, um über es Geschichten zu erzählen.
Der Kibbuz war nie eine Idylle?
Oz: Die Kibbuz-Bewegung ist einem übergroßen Traum entsprungen, anspruchsvoller als alle anderen revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Die Gründer hofften, nicht nur das soziale System, die Klassengesellschaft zu verändern. Sie wollten die menschliche Natur revolutionieren.
Sie glaubten, wenn sie eine Gemeinschaft schaffen, wo jeder das Gleiche isst, sich gleich kleidet, gleichermaßen Arbeit verrichtet und den gleichen Lebensstandard teilt, dass dann Selbstsucht und Egoismus verschwinden und ein neuer Mensch entsteht. Das hat sich als falscher Gedanke erwiesen. Als sich die Ideale nicht erfüllten, kamen interne Konflikte und Reibereien auf, verursacht auch durch die enge Nähe zueinander. Es gab Missverständnisse, böses Blut und Gerede.
Dabei hat die Kibbuz-Bewegung Menschen weltweit inspiriert – nicht nur Sozialisten, sondern auch die alternative Szene.
Oz: Unter den revolutionären Konzepten war die Kibbuz-Revolution die einzige, die ohne Erschießungskommandos, Gulags oder Konzentrationslager auskam. Im Kibbuz gab es nicht mal Polizisten. Der Kibbuz war am Ende nicht erfolgreich, aber er hat auch nicht versagt.
Denken Sie an den Schuhmacher in der letzten Erzählung. Er ist ein Idealist, Internationalist und Pazifist, ein Weltreformer bis zum letzten Atemzug. Er hat keine Frau, keinen Familie, niemanden. In einer großen Stadt würde er sterben wie ein Hund, im Kibbuz aber führt er ein beschütztes Leben.
Doch die menschliche Natur verändert sich eben nicht. Auch in der Liebe hat sich seit den Tagen von König Salomon bis heute nichts geändert – höchstens die Zigarette danach, sonst nichts.
Wie real sind die Charaktere in dem Buch?
Oz: Als es in Israel erschien, haben alle in meinem alten Kibbuz Hulda schnell nachgeschaut, ob sie sich oder andere Bewohner darin erkennen. Sie haben niemanden entdeckt. Ein Kibbuz-Nachbar hat mir mal erzählt, er kämme sich immer die Haare, ehe er an meinem Studierzimmer vorbeilaufe, damit er nicht ungekämmt in einer Geschichte vorkomme. Die Figuren im Buch sind erfunden, basieren aber auf meinen Erfahrungen.
Es war eine kleine Welt von 500 Leuten: Männer, Frauen, Kinder, Alte. Ich kannte sie alle. Ich wusste, wer was hinter wessen Rücken macht. Sie wussten ebenso alles über mich, was nur gerecht ist. In Tel Aviv, Berlin oder Köln wäre das unmöglich.
Haben Sie es genossen, beim Schreiben in Erinnerungen aus dem Kibbuz einzutauchen?
Oz: Jeder Autor zehrt von der Erinnerung. Schriftsteller sind verrückte Kreaturen. Ihr Hals und Kopf sind rückwärts gerichtet, eine Art Monster. Aber natürlich erfinden sie auch viel. Literatur ist eine Kombination aus Erfahrung, Erinnerung, Vorstellungsvermögen, Phantasie, Traum, Spekulation – von allem etwas.
In Israels frühen Jahren standen die Kibbuzim im Zentrum der Gesellschaft. Inzwischen ist ihre Bedeutung marginal. Erinnert Sie noch etwas in der heutigen israelischen Gesellschaft an den Kibbuz?
Oz: Oh ja! Es gibt noch immer ein mächtiges "Kibbuz-Gen", abzulesen am Hang der Israelis zu Anarchismus, Streit- und Diskussionslust, diesem "Niemand-soll-mir sagen-was-zu-tun-ist". Jeder weiß es besser, jeder ist sozial gleich. Das alles kommt vom Kibbuz.
Eine kleine Anekdote: Stanley Fischer, Direktor der "Israel-Bank", wollte mit seiner Frau eine Woche Urlaub in Zypern machen. Und so steht der Israel-Bankdirektor nach der Landung um ein Uhr morgens an der Gepäckausgabe und wartet auf seinen Koffer, als ihn ein israelischer Passagier anspricht. "Entschuldigung, aber sind Sie nicht der Bankdirektor? Dann möchte ich Sie fragen, ob es günstiger ist, mein Geld hier am Flughafen zu tauschen oder lieber morgen in der Stadt." Einem deutschen Bankdirektor wäre das garantiert nicht passiert.
Ist das Chuzpe?
Oz: Chuzpe trifft die Sache nicht ganz. Der Mann war ja nur direkt und sah den Bankdirektor als Gleichgestellten. Das ist das "Kibbuz-Gen". Ich mag es sehr. Erlauben Sie mir ein Geständnis: Ich liebe Israel selbst in Zeiten, wenn ich es nicht mag. Sollte ich je auf der Straße kollabieren, würde ich vorziehen, das nirgendwo anders als in Israel zu tun. Weil hier die Passanten sich sofort um mich kümmern würden.
Früher galten die Kibbuzniks als Israels stolze Pioniere. Heute gebärden sich die Siedler im Westjordanland so. Schmerzt Sie das?
Oz: Der Unterschied zwischen Kibbuzniks und Siedlern ist wie Tag und Nacht. Die Kibbuzniks haben sich mit Absicht in abgeschiedener Wildheit niedergelassen, wo es keine andere Bevölkerung gab. Das Gegenteil unternehmen die Siedler. Sie zielen darauf ab, den Palästinensern das Land wegzunehmen.
Der politische Einfluss der Siedlerlobby ist enorm, ähnlich dem, wie ihn die Kibbuz-Bewegung besaß. Was macht die Siedler zu einer solch dynamischen Kraft?
Oz: Sie sind in unserem politischen System überrepräsentiert, weil sie ständig Druck machen. Aber sie sind eine Minderheit. Die Fanatiker haben die jüngsten Wahlen verloren. Die Koalition der Siedler, Ultraorthodoxen und Russen hat ausgedient. Die nächste Regierung wird eine der Rechten und der Mitte sein, statt einer Regierung der Rechten und Ultrarechten. Das ist nicht mein Ideal, aber eine Verbesserung.
Ein Schritt zur Rückkehr der politischen Vernunft?
Oz: Wenn man die Israelis fragt, was wird sein, sagen 70 Prozent, am Ende laufe es auf eine Zwei-Staaten-Lösung hinaus. Die breite jüdische Mehrheit hat der Westbank "good-bye" gesagt.
Sie haben Premier Benjamin Netanjahu einen Feigling genannt. Trauen Sie ihm zu, sich mit den Siedlern anzulegen?
Oz: Ich bin mir nicht sicher. Aber Netanjahu hat derzeit mehr Angst vor der Weltmeinung als vor den Siedlern. Seine Feigheit könnte in beiden Richtungen funktionieren.
Interview: Inge Günther
Der 73-jährige Amos Oz ist Autor von internationalem Rang, der bereits mit Auszeichnungen überhäuft wurde, darunter der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Oz gilt als Vorkämpfer der israelischen Linksintellektuellen, der sich vor allem für eine Friedenslösung im Nahostkonflikt einsetzt. Amos Oz' Erzählband "Unter Freunden" erschien jüngst im Suhrkamp-Verlag.
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de