Politische Krise in Algerien – Kompromiss in Sicht?

Präsidentschaftswahl oder verfassungsgebende Versammlung? Algeriens Opposition streitet weiter über Auswege aus der Krise. Ein Vorschlag der Partei "Jil Jadid" könnte die verhärteten Fronten nun endlich aufbrechen. Sofian Naceur sprach mit ihrem Parteichef, Soufiane Djilali.

Von Sofian Philip Naceur

Herr Djilali, in Algerien stehen sich derzeit das Regime und die in zwei Lager aufgespaltene Opposition gegenüber. Wo positioniert sich "Jil Jadid"?

Soufiane Djilali: "Jil Jadid" vertritt keine dogmatische Position. Wir suchen nach einer Formel, um eine Lösung für die Krise zu finden. Das aktuelle Regime wird von offiziellen Institutionen repräsentiert, aber eigentlich vom Militär geführt. Die Armee will die Legitimität des Präsidenten wiederherstellen, um sich von der amtierenden Staatsführung, die ein Risiko darstellt, zu befreien. Daher setzt sie systematisch auf zügige Präsidentschaftswahlen.

Ein Teil der algerischen Opposition will ebenfalls schnell Wahlen durchführen und sobald es einen neuen Staatschef gibt, Reformen einleiten. Doch dieser Teil der Opposition ist misstrauisch und befürchtet, das Regime könnte diese Wahl vielleicht manipulieren. Also fordert sie Verhandlungen und besteht auf transparenten Wahlen. Der andere Teil der Opposition vertritt eine radikalere Position und will zunächst eine Verfassungsreform. Also noch vor der Organisation von Wahlen die Natur des Regimes ändern. Wir glauben aber, dies könnte das Land ins Schleudern bringen.

Warum?

Djilali: Wie will man denn Repräsentanten für eine solche Transition einsetzen? Wie sollen sie ausgewählt werden? Die einzelnen Parteien repräsentieren nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Die Protestbewegung selbst ist nicht strukturiert und von widersprüchlichen Ideen durchzogen. Es ist daher weder für die Protestbewegung noch das Regime oder die Opposition möglich, legitime Anführer für eine Transition zu benennen. Noch vor Wahlen institutionelle Veränderungen herbeizuführen, würde uns in flagrante Widersprüche hineinführen.

Freitagsproteste vom 2. August 2019 in der algerischen Hauptstadt Algier; Foto: picture-alliance/dpa/abaca
Wandel statt politischer Stillstand: Auch nach dem politischen Rückzug des algerischen Präsidenten Bouteflika fordern die Demonstranten den Aufbau eines demokratischen Staates und ein Ende der Dominanz des Militärs in Staat und Gesellschaft.Sie wollen, dass die auf den 4. Juli verschobene Präsidentschaftswahl ohne jede Beteiligung der Militärs Bensalah und General Gaïd Salah abgehalten wird.

Würde man einen sofortigen Systemwechsel anstreben, müsste man bis zum Abschluss solcher Reformen das aktuelle Regime behalten. Das würde Jahre dauern. Um die Verfassung zu reformieren müsste man zunächst sehr breite Debatten führen und sämtliche Ideologien würden sofort wieder aufleben. Die Laizisten würden eine laizistische Verfassung haben wollen, die Islamisten eine islamistische. Einige präferieren ein Präsidialsystem, andere ein parlamentarisches. Allein diese Fragen zu klären, ist sehr kompliziert und würde lange dauern – und zwar ohne sehr viel komplexere Aspekte wie Sprache oder Identität – sind wir arabisch, afrikanisch, berberisch? – überhaupt berührt zu haben.

"Jil Jadid" hat einen Kompromissvorschlag vorgelegt. Wie sieht dieser aus?

Djilali: Die Forderung nach institutioneller Reform ist legitim, die Rückkehr zu einer legitimen politischen Führung aber ebenso notwendig. Daher schlagen wir einen Pakt vor. Wir beginnen mit einer Präsidentschaftswahl, fordern aber von allen Kandidaten, sich dazu zu verpflichten, nach der Wahl einen verfassungsgebenden Prozess einzuleiten. Nach der Wahl eines Präsidenten müsste dieser Parlamentswahlen herbeiführen. Somit könnte der Staat seine Funktionen normal ausüben, es gäbe eine Exekutive und Regierungsentscheidungen könnten getroffen werden. Gleichzeitig könnte ein verfassungsgebender Prozess initiiert werden.

Doch so würden Wahlen erneut auf Basis des alten Wahlgesetzes durchgeführt werden!

Djilali: Nein, das Wahlgesetz müsste sofort geändert werden, also noch vor den Wahlen. Wir müssten auch eine unabhängige Wahlkommission einrichten. Doch zunächst mal bräuchten wir Maßnahmen zur politischen Deeskalation. Die Regierung muss zurücktreten, alle politischen Gefangenen müssen freigelassen werden. Bis zur Verabschiedung einer Verfassung könnten zwei Jahre vergehen. Aber das wäre nicht schlimm, der Staat würde ja normal funktionieren. Unsere Idee ist es also, beide Vorschläge zu verbinden und Präsidentschaftswahlen an einen verfassungsgebenden Prozess zu koppeln. Damit hätten alle gewonnen.

Dafür bräuchte man aber eine von allen akzeptierte Diskussionsplattform. Derzeit haben wir aber nur die von der Regierung einberufene Kommission von Karim Younes, die für die Opposition keine Legitimität genießt, und alle Oppositionslager ihre eigenen Debatten führen.

Djilali: Man müsste in der Tat alle an einen Tisch bekommen. Algeriens politische Gemeinschaft – also die Opposition bestehend aus Parteien, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft – ist gespalten. Einerseits haben wir die "Initiative des 6. Juli", in dessen Rahmen sich Parteien und Teile der Zivilgesellschaft in Ain Benian (Kommune östlich von Algier) getroffen haben, um Lösungsoptionen zu diskutieren. Andererseits gibt es die sich aus linken und liberalen Parteien und der Menschenrechtsliga LADDH zusammensetzende "Demokratische Alternative" (DA). Erstere tritt für schnelle Wahlen ein, letztere will einen verfassungsgebenden Prozess. Sollten sich die "Initiative des 6. Juli" und die "Demokratische Alternative" auf einen Kompromiss einigen, könnte man mit dem Regime über einen Fahrplan verhandeln – mit Younes als Mittelsmann und Vertreter des Regimes.

Wie haben die verschiedenen Lager auf Ihren Vorschlag reagiert?

Djilali: Wir stehen mit allen in Kontakt, auch mit Younes' Kommission. Bisher waren alle sehr interessiert an unserer Idee, auch wenn man sich in Detailfragen uneins ist. Die Parteien des 6. Juli stehen hinter der Initiative. In den Reihen der DA finden sich einige, die den Vorschlag unterstützen und andere, die noch zurückhaltend sind. Man müsste ihnen mehr Garantien anbieten. Ihre essenzielle Angst besteht darin, dass ein neuer Präsident eine Verfassung in seinem Sinne ausarbeiten lassen könnte, um somit weitere Reformen zu blockieren.

Bisher ignoriert Armeechef Ahmed Gaïd Salah Ihren Vorschlag. Er fordert weiter hartnäckig Präsidentschaftswahlen nach seinen Bedingungen.

Djilali: Wir dürften nicht naiv sein. Gaïd Salah weiß genau, dass er sich in einer illegitimen Situation befindet, in der er nicht mehr lange bleiben kann. Eine unabhängige Wahlkommission steht momentan aber bei allen auf der Agenda. Wenn wir also richtig verhandeln, dann können wir wirkliche Veränderungen einleiten. Wenn wir ein transparentes Wahlsystem etablieren würden, dann hätten wir Enormes erreicht. Nach und nach würde sich das Land verändern, eine neue politische Klasse entstehen. Der gesamte politische Apparat des Regimes von Ex-Präsident Abdelaziz Bouteflika ist heute neutralisiert. Fast 30 hochrangige Vertreter der alten Ordnung sind im Gefängnis. Das Problem ist jetzt, wie man etwas Neues aufbauen kann, ohne dabei die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen?

Gaïd Salahs Rhetorik hat sich allerdings seit Monaten nicht geändert. Gleichzeitig sehen wir vermehrte Repression der Behörden. Das Regime setzt auf eben jene Taktiken, die wir schon aus der Zeit vor Ausbruch der Proteste kennen.

Algeriens Armeestabschef Gaïd Salah; Foto: dpa/picture-alliance
Für Algeriens Demokratie-Aktivisten der Inbegriff des "ancien régime": "Armeestabschef Gaïd Salah ist fast 80 Jahre alt, er ist unter dem alten Regime ausgebildet worden, das dürfen wir nicht vergessen", meint der liberale Oppositionspolitiker Soufiane Djilali.

Djilali: Das Regime will den Wandel kontrollieren. Dieser ist aber unvermeidbar. Wir müssen trotzdem aufpassen. Wenn es eine radikale Öffnung des Systems gäbe, dann könnten wir wieder genau dahin zurückfallen, wo wir Ende der 1980er schon einmal waren. Seitens des Regimes haben wir es heute mit Reflexen zu tun. Gaïd Salah ist fast 80 Jahre alt, er ist unter dem alten Regime ausgebildet worden, das dürfen wir nicht vergessen.

In Sachen Repression würde ich trotzdem differenzieren. Junge Leute sind im Gefängnis, das stimmt. Während der Proteste erfolgte eine starke Erfassung durch den Sicherheitsapparat, ich würde das aber nicht Repression nennen – wenn man die Lage zum Beispiel mit den Ausschreitungen bei den Protesten der Gelbwesten in Frankreich vergleicht. Bei uns gab es keine direkte Gewaltanwendung. Die im Tagesverlauf verhafteten Menschen werden bis heute abends dann wieder schnell freigelassen. Dennoch gibt es politische Gefangene. Ich glaube aber, das Regime will diese für künftige Verhandlungen als Faustpfand behalten. Wir befinden uns also bereits in einer Phase impliziter Verhandlungen, wir nennen es nur nicht so.

Derweil gewinnt die Protestbewegung wieder an Schwung. Sie muss ihre Präsenz aufrechterhalten und weiter einen echten Wandel einfordern. Dieser Wandel muss aber ausgeglichen sein und darf nicht brutal vonstatten gehen, damit würden wir riskieren, den gesamten Staat zu destabilisieren. Die alten Reflexe des Systems dürfen aber auch nicht zurückkehren. Genau dieses Gleichgewicht müssen wir anstreben. Wir brauchen also eine breite, friedliche Präsenz der Bewegung auf den Straßen, einen auf Konsens basierenden Fahrplan zur Lösung der Krise. Darüber hinaus müssen wir uns nun langsam in Richtung Wahlen bewegen, um wieder eine legitime politische Führung zu bekommen. Das wäre eine gelungene Mischung, der einen wirklichen Wandel ermöglichen würde.

Das Interview führte Sofian Naceur.

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