Ohne Umwege zum Dschihad
Monsieur Miské, wie geht es Ihnen heute?
Karim Miské: Es geht mir besser, aber zwei, drei Tage nach den Attacken von Paris war ich am Boden zerstört. Ich konnte nicht klar denken und habe nur versucht herauszufinden, was geschehen ist, ob Freunde getötet oder verletzt wurden. Meine Freunde waren zwar nicht betroffen, wohl aber mehrere Menschen, denen ich schon mal begegnet bin. Ich wohne nicht weit weg vom Ort der Angriffe im 10. und 11. Bezirk. Es war alles geografisch und soziologisch sehr nah, denn viele Opfer waren Autoren und Filmleute. Es war ein Schock für uns alle.
Kurz danach schrieben Sie in einem Blog, Sie wünschten sich Schweigen angesichts des ganzen selbstgewissen Geredes in den Medien.
Miské: Ich habe schnell den Fernseher ausgeschaltet, weil dort nur endlos geredet wurde. Wie auch immer eine Lösung aussieht, für mich war das zu früh. Es hätte etwas Anstand geben sollen, Schweigen, um den Menschen Zeit zum Trauern zu geben. Ich war einfach nur traurig sein und wollte mit meinen Gefühlen allein sein. All diese selbstbewussten Medienvertreter fand ich in gewisser Weise schon fast obszön.
In "Entfliehen kannst du nie" beschreiben Sie ein multikulturelles Paris mit ultraorthodoxen Juden, korrupten Polizisten, Zeugen Jehovas, Salafisten und jungen Muslimen ohne Perspektive. Gehören diese jungen Araber in Ihren Augen zu Frankreichs verlorener Generation?
Miské: Wenn es um die Nachkommen von Migranten aus den früheren französischen Kolonien vor allem in West- und Nordafrika geht, dann hatten wir bereits mehrere verlorene Generationen. Bereits 1993 gab es einen Protestmarsch gegen Rassismus, weil die Polizei mehrere junge Araber erschossen hatte, aber danach passierte nichts. Da hat etwas nicht funktioniert. Generation für Generation gibt es den gleichen Typus desillusionierter Jugendlicher. Auch zehn Jahre nach den Unruhen von 2005 haben wir es mit den ewig gleichen Frustrationen zu tun.
Kann man denn heute wieder von einem Aufstand dieser perspektivlosen Jugend sprechen?
Miské: Es wäre zu simpel, von einer französischen Intifada zu sprechen. Es ist nicht so, dass zwei Teile der Bevölkerung gegeneinander Krieg führen. Es gibt viele multikulturelle Orte in Frankreich, viele gemischte Ehen und Menschen, die zusammen die Gesellschaft aufbauen. Aber auf der anderen Seite gibt es eben auch diese verlorene Generation in den Banlieues. Einige davon schaffen es, der Banlieue zu entkommen oder sie machen Abschlüsse, finden Arbeit und heiraten, selbst wenn sie dort wohnen bleiben, obwohl es nicht einfach ist. Viele Araber arbeiten als Lehrer, Sozialarbeiter, Ärzte oder Krankenschwestern. Aber unter denen, die es nicht schaffen, gibt es seit mehr als 30 Jahren die gleichen Frustrationen.
Wird denn für die Banlieues nicht genug getan?
Miské: Es ist ja nicht nur ein soziales, sondern auch ein philosophisches Problem – ein Problem der Leere der modernen Gesellschaft. Rund 30 Prozent der jungen Leute, die nach Syrien gehen, sind Konvertiten und stammen aus durchschnittlichen weißen, atheistischen Mittelschichtfamilien. Es sind Menschen mit sehr unterschiedlichen Problemlagen, die schließlich das Bedürfnis entwickeln, zu töten. Bei einigen sind es soziale Probleme, aber andererseits wird ja nicht jeder, der sich in sozialen Schwierigkeiten befindet, automatisch zum Dschihadisten.
Wo liegen dann für Sie die Wurzeln dieses unglaublichen Hasses?
Miské: Wir müssen jeden einzelnen betrachten, um dahinter zu kommen. Wenn man zum Beispiel die Kouachi-Brüder nimmt, die Charlie Hebdo-Attentäter: Das ist ja wie in einem Roman von Emile Zola! Schlimmeres kann man sich kaum noch vorstellen. Ihre Mutter war Prostituierte und hat sich umgebracht, die Brüder fanden ihre tote Mutter – das ist wirklich furchtbar! Einer der Attentäter von Paris, der aus Belgien stammt, kam dagegen aus einer ganz normalen Einwandererfamilie. Seine Schwestern und Brüder hatten einen völlig anderen Weg eingeschlagen. Ohne den sogenannten "Islamischen Staat" wäre dieser junge Mann vielleicht ein ganz ideologiefreier Serienmörder geworden, wer weiß.
Dann bildet der Islam also nur die Folie für ihren Hass?
Miské: Bei den meisten jedenfalls ist das der Fall. Die Attentäter von Frankreich und Belgien hatten eine kriminelle Vergangenheit. Was sich in den Gefängnissen abspielt, ist Teil der Erklärung. Da gibt es eine direkt Linie von Verbrechen oder illegalen Handlungen zum Dschihad ohne einen Umweg über den Islam. Diese Leute wissen nicht viel vom Islam, sie haben den Koran nicht studiert.
Außerdem, um ein Verbrechen zu begehen, brauchen Sie das entsprechende Training, Sie dürfen keine Angst haben und müssen damit rechnen, ihr Leben zu verlieren. Es sind Schurken. Die meisten Menschen sind nicht so. Sie wollen nicht sterben. Es ist schwierig allgemeingültige Antworten zu finden.
Sie sagen, jeder Fall sei individuell. Gibt es denn keine Aspekte, die sich verallgemeinern lassen?
Miské: Es gibt dieses Konzept des "sozialen Totalphänomens" – und der Dschihadismus gehört dazu. Jemand, der in seinem Leben etwas erreichen möchte und in seiner Jugend auf Abwege geraten ist, könnte den Dschihadisten folgen. Dschihadismus ist heute die Inkarnation der globalen Ablehnung des Systems. Vor dem Dschihadismus gab es die Kommunisten. Heute haben wir einen ganz anderen Gegenentwurf.
Für den französischen Soziologen Michel Wieviorka ist das Gefühl radikalen Ausgeschlossenseins die Hauptursache der Aggressionen. Stimmen Sie dem zu?
Miské: Na ja, einige Menschen kämpfen gegen dieses Ausgeschlossensein und andere nicht. Es ist für alle schwer. Es gibt Rassismus, Ausgrenzung und Islamophobie in Frankreich. Als junger Muslim stellt man eben eine potenzielle Gefahr für den Staat dar. Und das lässt man ihn auch spüren. Aber ich kenne viele ganz normale arabische Familien, die in keiner Weise radikal sind – und sie bilden die Mehrheit. 85 Prozent aller muslimischen Frauen in Frankreich haben niemals irgendeine Kopfbedeckung getragen, nur 20 Prozent der Muslime gehen in die Moschee. Sie sind nicht radikal, sie sind noch nicht einmal religiös.
Stellen die Attacken von Paris für Sie als Schriftsteller ein Problem dar? Die Mörder hätten direkt aus Ihrem Roman stammen können.
Miské: Ich habe diese Menschen doch nicht erfunden.
Aber können Sie jetzt noch Kriminalromane schreiben, die in diesem Milieu spielen?
Miské: Ich arbeite bereits am zweiten Band einer Trilogie. Aber es stimmt, dass ich jetzt ein Problem habe. Ein paar Tage vor den Anschlägen von Paris hat mich jemand gefragt, ob ich den Überfall auf Charlie Hebdo in meinem nächsten Buch verarbeite. Ich weiß nicht, ob er da rein passt, denn ich schreibe ja Literatur und keine Sachbücher. Jetzt habe ich ein Problem mit den neuen Anschlägen …
Wird es im zweiten Band auch um den religiösen Fundamentalismus gehen?
Miské: Nein, es wird eine andere Geschichte, in der es mehr um Drogenhandel als um Religion geht. Trotzdem ist es für mich nach den Anschlägen von Paris schwieriger geworden. Ich schreibe zwar keinen Roman über Dschihadisten, doch das Thema spielt mit hinein. In "Entfliehen kannst du nie" war es ein Großteil der erzählerischen Arbeit, die Geschichte zu verfremden, denn ich habe mich von einem Imam der Kouachi-Brüder inspirieren lassen. Er war das Vorbild für den Hassprediger in meinem Buch. Trotzdem habe ich eine Geschichte erfunden, in der es nicht um Terrorismus geht und der muss ich folgen.
Zunächst waren Sie Dokumentarfilmemacher. Warum haben Sie angefangen, Krimis zu schreiben?
Miské: Ich wusste immer, dass ich eines Tages einen Roman schreiben würde. Da ich Krimis liebe, war es für mich nur natürlich, einen Kriminalroman zu verfassen. Ich begann mit dem Schreiben und dann war da Ahmed (der Protagonist des Romans, Anm. der Redaktion) auf seinem Balkon. Dann hatte ich die Polizisten, ich musste überlegen, wer der Täter ist und so weiter. Ahmed hat mir das eingeflüstert. Ich hörte erst ihm und dann den anderen zu. Die Geschichte lebt von ihren Charakteren. Ich habe nur versucht, den richtigen Sound einzufangen.
Vor allem geht es in Ihrem Buch aber doch um Identität. Ahmed kämpft mit sich, er ist sogar depressiv…
Miské: Er kämpft nicht nur mit seiner Identität, sondern mit den furchtbaren Dingen, die er gesehen hat. Seine Depression resultiert aus einer Vielzahl persönlicher Gründe. Aber natürlich ist die Frage der Identität immer vorhanden, weil seine Eltern aus Marokko stammen und er in Frankreich aufgewachsen ist. Er fühlt sich nicht als Araber, sondern als ganz normaler Typ aus Paris. Wenn Sie ein Araber in Frankreich sind, dann schwingt die Frage nach der Identität aber immer mit. Und darauf müssen Sie eine Antwort finden.
Was bedeutet es, Franzose und Araber zugleich zu sein?
Miské: Für mich sind die meisten französischen Araber zuallererst Franzosen. In der Heimat ihrer Eltern gelten sie als Ausländer. Und so fühlen sie sich auch. Wenn man in einem Land aufgewachsen ist, dann trägt man diese typischen Gefühle, Gerüche und Geräusche in sich. Den Geruch der Metro. Das Gefühl eines verregneten Novembertags in den Straßen von Paris. Man schaut sich idiotische Fernsehsendungen an, wie alle anderen auch. Das prägt einen für immer. Die meisten Araber meiner Generation sind Franzosen. Sie würden nie auf den Gedanken kommen, in Marokko, Algerien oder Tunesien zu leben. Aber die französische Gesellschaft tut sich schwer, das zu akzeptieren.
Das Gespräch führte Claudia Mende.
© Qantara.de 2015
Der Dokumentarfilmer und Krimi-Autor Karim Miské wurde 1964 als Sohn eines mauretanischen Diplomaten und einer Französin in Abidjan (Elfenbeinküste) geboren und lebt heute in Paris. Sein vielbeachtetes Krimidebüt "Entfliehen kannst Du nie" (Bastei Lübbe) spielt in den trostlosen Migrantenvierteln von Paris. 2014 erhielt Miské für diesen Roman den "Grand Prix de littérature policière" in Frankreich.