"Extremisten wollen uns einen Kampf der Kulturen aufzwingen"
Herr Seddiki, welche Folgen wird der Terroranschlag auf die Satire-Zeitschrift "Charlie Hebdo" für die Muslime in Frankreich haben?
Djelloul Seddiki: Ich war jüngst gemeinsam mit einer Delegation französischer Imame beim Papst Franziskus zu Besuch, als wir von dem Terroranschlag auf "Charlie Hebdo" erfuhren.
Dieses Attentat stellt aus meiner Sicht eine Katastrophe dar, denn es bedeutet, dass die Konflikte des Nahen Ostens Frankreich erreicht haben. Natürlich mussten wir mit einer solchen Entwicklung rechnen, aber nicht mit einem derart brutalen Anschlag mit schweren Waffen und so vielen getöteten Journalisten, die für eine freie Presse und den Säkularismus in der französischen Gesellschaft eintreten.
Darüber hinaus stellt dieses Attentat eine Katastrophe dar, weil wir uns – sowie andere Minderheiten in Frankreich – ohnehin in einer schwierigen, aufgeheizten Situation befinden. Daher befürchte ich, dass sich jetzt die öffentliche Meinung gravierend ändern und zu einer Verschärfung der bereits bestehenden Konflikte zwischen der muslimischen Community und der französischen Mehrheitsgesellschaft führen wird.
Von welchen Konflikten sprechen Sie konkret?
Seddiki: Die muslimische Community in Frankreich sieht sich seit Langem mit zwei Konflikten konfrontiert: einem internen Konflikt mit den radikalisierten, fehlgeleiteten jungen Männern und einem externen Konflikt angesichts des herrschenden Medien-Diskurses über den Islam. Was die Schieflage in der medialen Darstellung des Islam angeht, so sind wir es leid, uns jedes Mal gebetsmühlenartig von kriminellen Gewaltakten im Namen des Islam distanzieren zu müssen. Wir sind in erster Linie französische Bürger – genau wie alle anderen Bürger dieser Republik auch – und tragen daher keine Verantwortung für diesen zutiefst gottlosen Anschlag auf die freie Presse des Landes.
Was kann die muslimische Community in Frankreich tun, um diese Schieflage, wie Sie es ausdrücken, zu korrigieren?
Seddiki: Wir müssen zunächst einmal alles dran setzen, dieses negative Reaktionsmuster zu überwinden. Wir müssen davon wegkommen, dass Medien reflexartig die muslimische Community für die barbarischen Taten einzelner Täter verantwortlich machen.
Tragischerweise übersehen die meisten Medien, dass die ganz gewöhnlichen Muslime in Frankreich die ersten Opfer des dschihadistischen Terrors sind. Auch weltweit stellen Muslime 90 Prozent der Opfer diverser islamistischer Terrorgruppen dar: in Syrien, im Irak und im Libanon. Und vergessen wir nicht Pakistan, wo kürzlich die Taliban ein Massaker an Kindern verübten.
Hinter diesem feigen Anschlag auf die Zeitschrift "Charlie Hebdo" stecken kriminelle, extremistische Gruppen, die uns einen Zusammenprall der Zivilisationen, einen Kampf der Kulturen, aufzwingen wollen. Schließlich haben einfache Muslime auf politische Konflikte im globalen Kontext und auf die geostrategische Lage der Welt keinen Einfluss.
Diese konfliktbeladenen Ereignisse tragen jedoch dazu bei, dass sich ein Bild vom Islam als "Gewaltreligion" zunehmend verfestigt. Was können Muslime konkret tun, um dieses Zerrbild zu korrigieren?
Seddiki: Das ist leider richtig. Wir müssen auf jeden Fall mehr Aufklärungsarbeit leisten, mehr Offenheit durch Bildungsangebote und eine intensivere Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in allen europäischen Ländern wagen.
Die Mehrheit der muslimischen Franzosen gehört der vierten Generation an, ihre Muttersprache ist Französisch, ihr Arabisch ist in der Regel nur rudimentär. Im Augenblick lebt die Mehrheit der muslimischen Franzosen am Rande der Gesellschaft, aber wenn wir Teil dieser Gesellschaft sein wollen, dann müssen wir uns mehr um Integration bemühen. Hier können wir sicherlich von den Erfahrungen der jüdischen Community lernen, denn die meisten französischen Juden sind gut integriert, ohne dabei ihre kulturelle und religiöse Identität aufzugeben.
Wie bewerten Sie die Arbeit der muslimischen Verbände in Frankreich angesichts dieser komplexen gesellschaftlichen Gemengelage?
Seddiki: Die meisten muslimischen Verbände in Frankreich wurden in den letzten Jahren gegründet und verfügen nur über bescheidene Ressourcen. Daher können wir von ihnen nicht viel erwarten. Sie leisten zurzeit das, was sie können.
Die französische Gesellschaft ist eine durch und durch laizistische Gesellschaft, die an das Individuum glaubt und nicht an das Kollektiv. Ich bin Verfechter einer klaren Trennung von privat-religiöser und öffentlicher Sphäre. Im heutigen Frankreich kann und soll jeder nach seiner Façon selig werden. Daher müssen wir die Muslime als Individuen stärken und deren Heterogenität akzeptieren. Sie bilden keinen monolithischen Block – nirgendwo.
Interview: Yasser Abumuailek
© Qantara.de 2015
Übersetzung aus dem Arabischen von Loay Mudhoon