Es geht um mehr als die Pressefreiheit

Nach dem mörderischen Attentat in Paris stellt sich die Frage, ob es die Franzosen schaffen werden, gemeinsam mit den knapp fünf Millionen Muslimen Hand in Hand gegen den Dschihadismus im eigenen Land anzutreten. Oder ob am Ende doch wieder die Muslime zum Sündenbock gemacht werden. Von Birgit Kaspar

Von Birgit Kaspar

Frankreich hält den Atem an: Nicht nur für eine Schweigeminute einen Tag nach dem Attentat auf die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" in Paris, bei dem zwölf Menschen ums Leben kamen und elf weitere verletzt wurden. Eine ganze Gesellschaft ist tief erschüttert angesichts des schwersten Anschlags auf französischem Boden seit mehr als 40 Jahren.

Solidarität, Entrüstung und Angst erfüllen die Gemüter. Angst nicht zuletzt vor den möglichen Langzeitfolgen dieser Morde an Journalisten, die sich als Speerspitze der Pressefreiheit in Frankreich sahen und deren mutmaßliche Mörder im dschihadistischen, radikal-islamistischen Milieu verortet werden.

Die Franzosen wussten, dass sie sich im Visier der radikalen Islamisten befanden. Loïc Garnier, Chef der staatlichen Einheit zur Koordination des anti-terroristischen Kampfes ("Uclat"), warnte vor kurzem: Die Frage sei nicht, ob es ein islamistisches Attentat in Frankreich geben werde, sondern lediglich wann.

Im Visier

Cover "Charia Hebdo"
Vorboten des islamistischen Terrors: Kurze Zeit nach der Veröffentlichung einer Sonderausgabe der Satirezeitschrift mit dem Titel "Charia Hebdo", wurde im November 2011 ein Brandanschlag auf die Redaktionsräume von "Charlie Hebdo" verübt.

Auch die Redaktion von "Charlie Hebdo" wusste, dass sie Ziel der Islamisten war. Das Satiremagazin hatte 2006 die umstrittenen Mohammed-Karikaturen der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten komplett reproduziert, erweitert um einige eigene Karikaturen. Der Direktor der Publikation, Charb – eigentlich Stéphane Charbonnier –, der dem gestrigen Anschlag zum Opfer fiel, begründete den Nachdruck mit seinem Eintreten für die Pressefreiheit. Er betonte aber auch, "Charlie Hebdo" sei keineswegs auf Attacken gegen den Islam spezialisiert. Wenn es jedoch nötig sei, scheue man davor jedoch nicht zurück.

Seit November 2011 steht die Redaktion nach einem Brandanschlag auf die Redaktionsräume unter Polizeischutz. Kurz zuvor war die Titelseite einer bevorstehenden Sonderausgabe mit dem Titel "Charia Hebdo" bekannt geworden. Darauf war der Prophet Mohammed, der ironisierend als Gast-Chefredakteur auserkoren worden war, karikiert abgebildet und mit den Worten zitiert: "Wenn Ihr Euch nicht totlacht, gibt es 100 Peitschenhiebe."

Bei dem damaligen Brandanschlag wurde niemand verletzt. Weitere Mohammed-Karikaturen folgten 2012 sowie 2013. Drohungen aus islamistischen Kreisen hat es in diesen Zusammenhängen immer wieder gegeben. Aber in den letzten Monaten seien sie weniger spürbar gewesen. Deshalb sei der tödliche Anschlag auf die Redaktionsmitglieder umso schockierender, erklärte Chefredakteur Gérard Biard der Zeitung "Le Monde".

Am Abend nach dem Anschlag gingen zehntausende Franzosen auf die Straße – geeint in der Abscheu vor der Brutalität der Tat und entschlossen, für ihre Werte von Pressefreiheit und Demokratie einzustehen. Staatspräsident François Hollande rief zur nationalen Einheit auf und erklärte einen Tag der nationalen Trauer – eine Seltenheit in der jüngeren französischen Geschichte.

Im Herzen getroffen

Frankreich sei in seinem Herzen getroffen worden, so Hollande. Eine Formulierung, die von Politikern jeder Couleur aufgegriffen wurde und mit der sich auch viele der Protestierenden auf den öffentlichen Plätzen in Paris, Toulouse, Lyon und Marseille identifizierten.

Marine Le Pen, die Chefin des ultra-rechten Front National, ging einen Schritt weiter. Sie erklärte, Frankreich müsse sich ab sofort im Krieg gegen den islamischen Fundamentalismus befinden. Politische Beobachter warnen schon jetzt, dass der Front National mittelfristig politisch von den Folgen des Anschlags gegen "Charlie Hebdo" profitieren könnte.

FN-Chefin Marine Le Pen; Foto: DW/M. Luy
Wasser auf die Mühlen der französischen Rechtsextremen: Nach dem Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" hat die Chefin des Front National (FN), Marine Le Pen, erneut ein Referendum über die Todesstrafe in die Debatte gebracht. Sie wolle eine Abstimmung über die Wiedereinführung der Todesstrafe vorschlagen, sollte sie 2017 zur Staatspräsidentin gewählt werden.

Auch die offiziellen Vertreter der Muslime in Frankreich haben das Attentat ohne Zögern und ohne Einschränkung verurteilt. Vertreter verschiedener islamischer Organisationen trafen sich in der Großen Moschee von Paris auf Einladung des "Conseil francais du culte musulmane" (CFCM).

In einer gemeinsamen Botschaft riefen sie alle Imame in Frankreich auf, die Gewalt und den Terrorismus in aller Deutlichkeit in den Moscheen zu verurteilen. Außerdem sollten die französischen Muslime aufgerufen werden, sich massiv an der für das Wochenende geplanten nationalen Kundgebung zu beteiligen "um ihrem Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben und ihrem Respekt vor den Werten der Republik Nachdruck zu verleihen."

"Eine psychopathische Vision des Islam"

Dalil Boubakeur, der Präsident des CFCM, hatte zuvor die "total irregleitete, krankhafte und psychopathische Vision des Islam" der Attentäter verurteilt. Auch der Imam der Moschee in Drancy, Hassen Chalgoumi, der für seinen Einsatz zum friedlichen Dialog der Religionen in Frankreich bekannt ist, betonte: "Die Barbarei der Attentäter hat nichts mit dem Islam zu tun."

Die Angst der französischen Muslime, trotz der allgegenwärtigen Aufrufe zur nationalen Einheit letztendlich Opfer einer weiter verschärften Version der ohnehin schon verbreiteten Islamophobie zu werden, ist deutlich spürbar. Schon gibt es erste Berichte von Angriffen auf verschiedene Moscheen im Land. Der Präsident der "Internationalen Liga gegen Rassismus und Antisemitismus", Alain Jakubowicz, sprach aus, was viele denken: "Die Angst ist groß, dass der Islam erneut als Wurzel dieser Monstrosität gesehen wird."

Noch ist die die nationale Einheit in aller Munde – inklusive der Muslime, welche die republikanischen Werte, darunter die Presse- und Meinungsfreiheit, teilen. Doch das könnte sich ändern, sobald die Welle der ersten großen Emotionen verebbt. Vorsichtig weisen darauf Stimmen ganz normaler Muslime im Internet hin.

Die 17-Jährige Ikram, die algerischer Herkunft ist, betont auf der Facebookseite "Pas en mon nom": "Ihr Islam (der Täter) ist weder meiner, noch der von tausenden anderen Muslimen, die täglich direkte oder indirekte islamophobische Attacken erleben." Ikram warnt vor gefährlichen Amalgamen und zitiert Voltaire mit den Worten: "Ich bin nicht einverstanden mit Euren Worten, aber ich werde dafür kämpfen, dass Ihr das Recht habt, sie auszusprechen."

Trauer nach Anschlag auf Charlie Hebdo in Paris; Foto: AFP/Getty Images/D. Meyer
"Es geht jetzt und in den kommenden Wochen um viel mehr als die Pressefreiheit. Es wird auch darum gehen, ob die Franzosen es schaffen werden, gemeinsam mit den knapp fünf Millionen Muslimen Hand in Hand gegen den Dschihadismus im eigenen Land anzutreten", schreibt Kaspar.

Eine neu ins Leben gerufene Facebook-Seite "Musulmans nous soutenons Charlie Hebdo" (Muslime, wir unterstützen "Charlie Hebdo") findet bislang nur verhaltenen Zuspruch. AmineK twittert: "Mir tun die Stigmatisierungen, die sich blind gegen diejenigen richten werden, die überhaupt nichts mit dieser Tat zu tun haben, schon im voraus weh."

Satire und gesellschaftliche Verantwortung

Neben echter Entrüstung über das Blutvergießen scheint sich öffentliches Unbehagen breit zu machen. Nicht viele Franzosen, und noch weniger französische Muslime, trauen sich in diesen Stunden, Kritik an der Islam-Satire von "Charlie Hebdo" zu üben. Solidarität mit den Anschlagsopfern und der Kampf für den Erhalt der Pressfreiheit stehen ganz oben auf der Tagesordnung.

Doch geht es jetzt und in den kommenden Wochen um viel mehr als die Pressefreiheit. Es wird auch darum gehen, ob die Franzosen es schaffen werden, gemeinsam mit den knapp fünf Millionen Muslimen Hand in Hand gegen den islamischen Dschihadismus im eigenen Land anzutreten. Oder ob am Ende doch wieder die Muslime und ihre Religion zum Sündenbock gemacht werden, ob sie im Zweifelsfalle quasi wieder unter Generalverdacht gestellt werden.

"Charlie Hebdo" hat nicht alle zum Lachen gebracht, mitunter nicht einmal zum Schmunzeln. Aber Zensur kann und darf in einer Demokratie nach westlichem Verständnis nicht toleriert werden. Zu einem späteren Zeitpunkt sollte allerdings die Frage gestellt werden können, ob man nicht auch der Satire ein gewisses Maß an Verantwortung für ihre Wirkung in einem ohnehin schon islamfeindlich aufgeladenen gesellschaftlich-politischen Umfeld abverlangen darf. In anderen, ebenfalls sensiblen religiösen Kontexten fällt das offenbar weniger schwer.

Eine Demonstrantin mit algerisch-tunesischen Wurzeln sagte in Paris unter Tränen, sie mache sich große Sorgen um dieses Land. Das empfinden heute viele Franzosen. Nicht in erster Linie, weil sie die Pressefreiheit in Gefahr sehen.

Birgit Kaspar

© Qantara.de 2015