"Wir brauchen mehr Respekt vor der Verfassung"
Adil Abdul Mahdi ist ein Schwergewicht der irakischen Politik in der Post-Saddam-Ära. Schon im ersten, von US-Administrator Paul Bremer eingesetzten Regierungsrat war der Schiit Stellvertreter des mächtigen Schiitenführers Abdul Aziz al-Hakim. Im Qantara-Interview mit Birgit Svensson äußert sich der irakische Vizepräsident über die Verschlechterung der Sicherheitslage und die stagnierende Regierungsbildung.
Seit über sechs Monaten ist der Irak praktisch ohne Regierung. Aus den Parlamentswahlen am 7. März ging keine Partei als klarer Sieger hervor. Die Iraqia-Liste des ehemaligen Ministerpräsidenten Ijad Allawi liegt mit zwei Sitzen knapp vor dem noch amtierenden Premier Nuri al-Maliki und seiner Rechtsstaatspartei. Keiner der beiden kann alleine regieren. Doch die Suche nach geeigneten Koalitionspartnern ist bislang folgenlos geblieben. Inzwischen dominieren Streit und Lethargie die politische Szene in Bagdad. Leidtragende des Hickhacks sind die Menschen im Irak. Denn durch das politische Vakuum gewinnen extremistische Kräfte wieder an Boden.
Die Anschläge im Irak nehmen wieder zu. Radikale und Extremisten gewinnen an Boden. Warum?
Adil Abdul Mahdi: Wir waren in den letzten Jahren immer in der Situation von Angriff und Gegenangriff zwischen der Regierung und den Terroristen. Auch wenn die Sicherheitslage besser geworden ist, die Terrororganisationen sind noch da. Allerdings agieren sie jetzt im Untergrund, nachdem sie vorher offen aufgetreten sind und Kontrolle über Regionen, Provinzen oder Stadtviertel erkämpft hatten. Das verbuchen wir als Teilsieg für die Regierung. Das Schlimme aber ist, dass sie noch immer die gesamte Bevölkerung als Zielscheibe sehen. Trotzdem bin ich fest davon überzeugt, dass wir den Kampf gegen den Terror gewinnen werden.
Halten Sie es vor diesem Hintergrund für eine gute Idee, dass über die Hälfte der amerikanischen Truppen abgezogen ist?
Abdul Mahdi: Es ist keine Frage von Zahlen, mehr eine Frage der Systeme. Die irakischen Sicherheitskräfte können inzwischen besser mit der terroristischen Bedrohung umgehen. Was aber die Verteidigung des Landes gegen äußere Feinde anbelangt, ist Irak noch nicht bereit. Die Luftstreitkräfte sind noch völlig unterentwickelt. Aber die Amerikaner werden ja noch mit 50.000 Mann bis 2012 bleiben und wir werden ihre Unterstützung, ihre Geheimdienstinformationen bekommen. Sie werden eingreifen, wenn wir sie brauchen.
Seit über sechs Monaten wird nun um eine neue Regierung gerungen. Rächt es sich jetzt, dass die Amerikaner mehr auf militärische Optionen, als auf den politischen Prozess gesetzt haben?
Abdul Mahdi: Ja. Vom Einmarsch im März 2003 bis im letzten Jahr, als Obama ins Weiße Haus einzog, haben die Amerikaner eine aktivere Rolle im Irak gespielt. Seitdem sind die Iraker mehr und mehr auf sich selbst gestellt. Das ist gut und schlecht. Der politische Prozess hält nicht mit dem militärischen Schritt.
Die Regierungsbildung schleppt sich seit über sechs Monaten dahin. Warum ist es so schwierig?
Abdul Mahdi: Der Charakter der Iraker ist kompliziert. Da spielen so viele Faktoren eine Rolle: Religion, Ethnie, Stammeszugehörigkeit. Ob man unter dem vorigen Regime privilegiert war oder verfolgt. Ob man im Irak war oder im Exil. All dies unter einen Hut zu bekommen, ist schwierig. Für mich gibt es nur eine Möglichkeit, nämlich ein föderales System, was Möglichkeiten zum Ausgleich bietet. Doch obwohl dies in unserer neuen Verfassung verankert ist, sind wir noch weit davon entfernt, es umzusetzen. Kompromisse und Koalitionsbildung sind uns unbekannt.
Wenn sie den Grad der Demokratisierung auf einer Skala von eins bis zehn einordnen sollen, wo steht der Irak heute?
Abdul Mahdi: Ich bin trotz allem optimistisch und sage fünf plus. Das heißt, wir haben etwas mehr als die Hälfte des Weges geschafft. Was wir noch dringend brauchen, ist mehr Respekt vor der Verfassung. Wir müssen den Menschen vermitteln, dass die Verfassung für alle gilt und es für alle gilt, sie zu respektieren. Daraus ergibt sich alles andere. Das müssen die meisten von uns noch lernen. Aber nehmen sie Lateinamerika oder Asien. Diese Länder haben auch mehr als zehn Jahre gebraucht, bevor demokratische Strukturen gegriffen haben.
Aber auch Ihre Allianz, die schiitische INA, schafft es nicht, sich auf einen Kandidaten für den Regierungschef zu einigen, mit dem sie dann ins Rennen geht. Sie selbst wurden, neben anderen, ja auch kurze Zeit als einer der möglichen Kandidaten gehandelt.
Abdul Mahdi: Wir sind ein Zusammenschluss unterschiedlicher Gruppierungen und Parteien. Es ist keine Allianz, die durch eine Person dominiert wird. Das macht die Sache so schwierig. Wir haben das Treffen zwischen Ijad Allawi und Nuri al-Maliki begrüßt. Sie haben die meisten Stimmen bei den Wahlen bekommen. Und wir haben sie aufgefordert, eine Lösung zu finden. Beide zusammen haben 180 Sitze, eine komfortable Mehrheit. Aber sie sind zerstritten über die Frage, wer Regierungschef werden soll. Das ist der Grund für die Verzögerung bei der Regierungsbildung. Ich kann nicht verstehen, warum der Zeitrahmen, den die Verfassung vorgibt, nicht respektiert und immer wieder neuer Aufschub durchgesetzt wird. Das ist ein grober Fehler. Die Amerikaner machen jetzt aber Druck.
Wenn Allawi und Maliki zusammen eine Regierung bilden, haben die beiden eine komfortable Mehrheit und Sie und die INA sind draußen. Werden Sie das akzeptieren?
Abdul Mahdi: Warum nicht: Dann sind wir in der Opposition!
Interview: Birgit Svensson
© Qantara.de 2010
Seit vier Jahren ist der 67-jährige Bagdader Adil Abdul Mahdi Iraks Vizepräsident. Der im französischen Exil promovierte Ökonom trug wesentlich zum Entstehen der Schiitenallianz INA bei, die aus den ersten beiden Parlamentswahlen als klarer Sieger hervorging. Bei den letzten Wahlen am 7. März wurde die Allianz nach Ijad Allawis und Nuri al-Malikis Listen drittstärkste Kraft. Er selbst gehört dem Hohen Islamischen Rat Iraks an, einer religiösen schiitischen Partei, die von Exilirakern in den 1980er Jahren in Teheran gegründet wurde.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
Qantara.de
Buchtipp: "Die neue bundesstaatliche Ordnung des Irak"
Föderalismus als Königsweg
Der syrische Rechtswissenschaftler Naseef Naeem hat eine detaillierte Studie vorgelegt, die die Entstehung, Konstituierung und Konsolidierung der neuen irakischen Verfassung unter die Lupe nimmt. Sie liefert zudem eine gute gesellschaftspolitische Einordnung des Nachkriegsiraks. Sebastian Sons stellt die Studie vor.
Politischer Machtkampf im Irak
Blutige Wende
Rechtsstaat gegen Gottesstaat: Im Vorfeld der Parlamentswahlen formiert sich die irakische Parteienlandschaft neu, begleitet von verheerenden Anschlägen. Einzelheiten von Birgit Svensson aus Bagdad
Interview mit Nuri al-Maliki
"Der Irak ist keine Kampfarena für andere Staaten"
Der irakische Ministerpräsident al-Maliki sprach im Rahmen seines Deutschlandbesuchs mit der Deutschen Welle über die Entwicklungschancen des seines Landes, die Aufgaben seiner Regierung und das Verhältnis zu den Nachbarländern. Mit al-Maliki sprach Mohamed Ibrahim.
Siebter Jahrestag des Sturzes von Saddam Hussein
Der Irak und die Büchse der Pandora
Es waren Bilder, die um die Welt gingen: Der Sturz der übergroßen Saddam-Statue in Bagdad am 9. April 2003 läutete eine neue politische Ära im Zweistromland ein. Doch der Euphorie über die neu gewonnene Freiheit folgte bald Ernüchterung. Nagih Al-Obaidi informiert.