Der Beutefeldzug des "Islamischen Staates"
In Ihrem Buch "Die Neuen Dschihadisten" warnen Sie ausdrücklich vor Panikmache und antiislamischen Ressentiments in Deutschland. Gleichzeitig haben Sie in Interviews mehrfach drauf hingewiesen, dass "es Anschläge in Deutschland geben wird". Das klingt recht widersprüchlich…
Peter Neumann: Mein Argument ist immer gewesen, dass wir in der Vergangenheit - ob in Deutschland oder auch in anderen Ländern - stets zu extremen Reaktionen geneigt haben. Wenn sich ein Anschlag ereignete, entstand plötzlich große Panik – und man vermutete dann hinter jeder Moschee einen Terroristen. Wenn dann zwei Monate darauf nichts passierte, hieß es, man müsse sich nun eigentlich keine Sorgen mehr machen. Doch wir müssen mit dieser Bedrohung heute realistisch umgehen, sie existiert, und es werden sicher auch noch weitere Anschläge folgen. Wahrscheinlich wird es dieses Jahr sogar ähnliche Attentate geben wie in Paris. Man sollte daher realistisch bleiben, womit man auch verhindert, dass es nach einem weiteren Anschlag zu einer erneuten Panikreaktion kommt.
Müssen wir uns also an diese Bedrohung künftig gewöhnen?
Neumann: Ja.
Sie glauben, dass heute auch eine zunehmende Gefahr vom rechten Rand der Gesellschaft droht, die nicht nur die Polarisierung fördert, sondern auch eine ernste Gefahr für die Muslime in Europa darstellt. Ist es nicht auch das Ziel der Dschihadisten, mit ihren Anschlägen gezielt die gesellschaftliche Spaltung voranzutreiben?
Neumann: Es ist eine Konsequenz. Ob das so vom sogenannten "Islamischen Staat" konkret beabsichtigt ist, ob es eine Strategie darstellt, vermag ich nicht zu beurteilen. Es könnte gut sein, aber ich führe immer auch den tatsächlichen Beweis für eine These. Allerdings habe ich noch kein Statement oder Dokument des "Islamischen Staates" gesehen, in dem dieses Ziel dezidiert formuliert worden ist. Aber natürlich ist es für den IS, genau wie davor für al-Qaida, ein Ziel, eine Situation herbeizuführen, in der die Muslime vor die Wahl gestellt werden: "Bin ich für einen Islam wie ihn der IS repräsentiert oder aber bin ich für die Feinde des Islams?" Es ist genau dieses Schwarz-Weiß-Denken, das den IS auszeichnet - eine Position, die keine pluralistischen Sichtweisen toleriert. Wir wissen, dass Al-Qaida in Form von Online-Kampagnen, wie etwa die von Anwar al-Awlaki, an die Muslime in die USA appellierte: "Ihr müsst Euch entscheiden, wer Ihr sein wollt? Seid Ihr Amerikaner oder Muslime? Wenn Ihr echte Muslime seid, müsst Ihr bei mir mitmachen". Insofern ist Spaltung und extreme gesellschaftliche Polarisierung zumindest ein impliziter Hintergedanke bei diesen Anschlägen im Westen.
In Ihrem Buch analysieren Sie auch die Struktur des IS und stellen fest, dass dieses selbsternannte Kalifat ein "Hybrid aus Aufstandsgruppe und Staat" ist. Laut IS-Vordenker Abu Bakr Naji ist die Anwendung von Gewalt für die Dschihadisten ein Mittel zum Zweck: Nach dem totalen Chaos in der Phase der Grausamkeit soll die völlig Ordnung einkehren. Die Vision ist die Verwirklichung einer salafistischen Gesellschaftsordnung. In welcher Phase befindet sich der IS ein Jahr nach Beginn der US-geführten Luftangriffe?
Neumann: Der IS durchläuft gegenwärtig sehr unterschiedliche Phasen. Wenn Sie nach Raqqa schauen, beobachten wir dort sicherlich die vierte oder fünfte Phase, in der der "Islamische Staat" tatsächlich versucht, eine salafistische Gesellschaft aufzubauen - mit all den Elementen, die dazu gehören.
Außerhalb Syriens und des Iraks haben die Dschihadisten das nur im libyschen Sirte erreichen können. Der "Islamische Staat" behauptet zwar immer, er beherrsche Provinzen an neun oder zehn Orten weltweit. Aber in den allermeisten vom IS beherrschten Gebieten ist dieser Staatsaufbau noch nicht so weit vorangekommen wie etwa in Syrien und im Irak, wo tatsächlich diese gesellschaftliche Ordnung durchgesetzt wurde - samt Scharia-Gerichten und salafistischen Verhaltensregeln. Das trifft aber nur auf das Kerngebiet des IS zu, und selbst dort gibt Unterschiede, je nach dem ob ein Gebiet neu ist, oder wie lax der jeweilige Gouverneur handelt.
In Ihrem Buch vertreten sie die Ansicht, dass die IS-Erfolge auf Expansion basieren. Sie bezeichnen das auch als "Beuteökonomie". Jüngst konnte man aus den Medien entnehmen, dass der IS die Löhne seiner Kämpfer halbieren musste. Erleben wir gerade den langsamen wirtschaftlichen Niedergang des Kalifats-Projekts?
Neumann: Das beruht auf Dokumenten, auf die einer meiner Kollegen, Aymenn al-Tamimi, gestoßen ist. Sie belegen, dass innerhalb des IS-Kerngebietes in Syrien und im Irak bereits eine wirtschaftliche Krise eingesetzt hat. Zum einen wurden die Löhne der IS-Kämpfer gekürzt, was den signifikantesten Hinweis auf den Niedergang darstellt, denn die Kämpfer zählen ja zur gesellschaftlichen Elite des "Islamischen Staates". Zum anderen existiert keine richtige medizinische Versorgung mehr, keine Ärzte. Und auch die Kosten für Schul- und Lehrbücher müssen von den Eltern in den vom IS kontrollierten Gebieten selbst bezahlt werden. Das war vorher nicht der Fall.
Das von mir angeführte Argument der Beuteökonomie bedeutet, dass der "Islamische Staat" ständig militärisch expandieren muss, um das wirtschaftliche Leben in den IS-Kerngebieten am Leben halten zu können. Ich sehe hier durchaus eine Parallele zu Nazideutschland. Auch damals war die Wirtschaft ohne militärische Expansion nicht überlebensfähig und ständig davon abhängig, dass immer neue Gebiete erobert, annektiert und ausgebeutet werden mussten.
Ganz ähnlich verhält es sich auch im Fall des IS. Das wird auch durch die Dokumente meines Kollegen Aymenn al-Tamimi bestätigt. Dokumente, die Aufschluss über den Haushalt des "Islamischen Staates" geben, zeigen ganz deutlich, dass die Mehrheit der Einnahmen eben nicht aus dem Verkauf von Erdöl oder anderen illegalen Exporten stammen, sondern aus den Konfiszierungen und den Besteuerungen.
Warum sind ein Großteil der deutschen IS-Kämpfer Vorbestrafte, aus England kommen dagegen vor allem Akademiker zum IS? Haben Sie dafür eine Erklärung?
Neumann: Die Gründe hierfür sind recht verschieden. In Großbritannien hängt es mit den Rekrutierungsstrukturen zusammen. Dort hat sich die dschihadistische Bewegung bereits seit Jahren intensiv an den Universitäten organisiert. Das ist in Deutschland nicht der Fall. Die salafistische Bewegung in Deutschland ist im Prinzip eine, die in den Ghettos operiert. Sie versucht Leute, die gestrandet und orientierungslos sind, vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund, aber auch viele Konvertiten, aufzulesen und ihnen ein Angebot zu machen.
Sie weisen in Ihrem Buch auch darauf hin, dass diese Fußsoldaten größtenteils aus "pragmatischen Gründen" dem IS dienen. Viele verfolgen eine "konfessionelle Agenda", eine weitere Gruppe bezeichnen Sie als "Opportunisten". Die meisten lokal verwurzelten Kämpfer haben kein ideologisches Ziel, sondern wollen vielmehr ein festes Gehalt und eine kostenlose Wohnung erhalten. Werden die "Gotteskrieger" des IS in den Medien überzeichnet oder gar falsch dargestellt?
Neumann: Schauen Sie nach Deutschland: Als die Nazis an die Macht kamen, hat auch nicht die gesamte Bevölkerung an die Nazi-Ideologie geglaubt. Nicht mal alle Mitglieder der NSDAP waren ideologisch gänzlich auf Linie gebracht, es gab viele Opportunisten. Im Prinzip haben diejenigen, die nach der Machtergreifung Hitlers der NSDAP beigetreten sind, dies mitunter aus Karrieregründen getan. Und genau so verhält es sich im Fall des "Islamischen Staates" auch. Wir dürfen daher nicht davon ausgehen, dass diejenigen, die in Syrien und im Irak mitmachen, alle hundertprozentig überzeugte ideologische Kämpfer sind. Viele machen mit, weil sie sich gewisse Privilegien und wirtschaftlichen Erfolg versprechen.
Ein weiterer Grund für den Erfolg des "Islamischen Staates" im Irak und in Syrien ist auf den dort herrschenden konfessionellen Konflikt zurückzuführen. Der IS hat sich sehr geschickt in diesen Konflikt eingeschaltet. Er ist die schlagkräftigste Gruppe, die gegen die irakische Regierung von Nuri al-Maliki und auch gegen die Bevormundung durch Minderheiten in Syrien gekämpft hat. Auch das ist ein Grund für die Popularität des IS. Es ist daher auch meiner Meinung nach völlig falsch, wie Herr Todenhöfer zu argumentieren: "Das sind alles Verrückte, ideologisch motivierte Gehirngewaschene“. Denn wenn man sich vor allem mit den lokalen IS-Rekruten unterhält, und mit Leuten die aus Syrien kommen und Leute kennen, die dem IS beigetreten sind, dann wird einem mitgeteilt, dass vielleicht 15 oder 20 Prozent aus ideologischer Motivation Anhänger des "Islamischen Staates" sind. Der Rest ist aus zahlreichen anderen Gründen zum IS gekommen. Und das ist auch meine Hauptkritik an Herrn Todenhöfer, weil er die Dschihadisten genau so darstellt, wie es der "Islamische Staat" wohl auch gern möchte - nämlich, dass alle denken, dass sämtliche IS-Mitglieder hundertprozentig ideologisch motiviert seien. Doch wenn man genauer hinschaut, trifft dies nicht zu.
Ein Großteil der weltweiten Flüchtlinge stammt aus Syrien und dem Irak. Dem IS laufen sozusagen die Muslime davon - ausgerechnet in Richtung der "Ungläubigen". Schadet das ideologisch dem "Islamischen Staat"?
Neumann: Die Muslime fliehen natürlich nicht nur aus dem vom IS besetzten Territorium. Aber der "Islamische Staat" hat in Videobotschaften und sogar Fatwas unmissverständlich erklärt, dass es "eine große Sünde" sei, wenn man den "Islamischen Staat" verlasse und nach Europa fliehe. Man habe die religiöse Pflicht, im "Islamischen Staat" zu bleiben, denn an keinem anderen Ort könne man angeblich in einer so perfekten Gesellschaft leben. Der "Islamische Staat" will die Bevölkerung in den Gebieten natürlich nicht verlieren – aus ideologischen und ökonomischen Gründen.
In den letzten beiden Jahren konnten wir beobachten, dass viele gemäßigte und gebildete Menschen aus den IS-Gebieten geflohen sind. Deshalb gibt es dort auch keine Ärzte und Ingenieure mehr. Und auch die Ölproduktionsanlagen stehen still, weil es keine Leute gibt, die sie bedienen können. Das stellt den "Islamischen Staat" vor gewaltige Probleme.
Ein Thema, das bisher kaum Erwähnung fand, ist das der weiblichen Unterstützer des IS und der Auswanderinnen. Sie beschreiben sie als noch intoleranter und im Internet aktiver als die Männer. Weshalb?
Neumann: Mir ging es darum, dass die Darstellung weiblicher Unterstützer des IS vor allem in den populären Medien falsch ist. Oftmals wird so getan, als wären die Männer die Terroristen, und die Frauen die "armen Dschihad-Bräute", die sozusagen verführt wurden und auswanderten, um mit irgendeinem raubärtigen Kämpfer zusammen zu sein. Aber die Frauen, die wir im Internet beobachten - und wir verfügen mittlerweile über einen Datensatz mit 150 Frauen aus dem Westen, die beim IS aktiv sind - sind ideologisch mindestens genauso überzeugt wie die Männer. Sie sind im Internet sogar aktiver als die Männer, weil sie nicht kämpfen dürfen. Sie verbringen ihre Zeit vor allem damit, Leute anzuwerben und dergleichen. Die Gründe oder Narrative, warum sie sich radikalisieren, sind häufig dieselben wie bei den Männern. Deshalb glaube ich, dass die Unterschiede gar nicht so groß sind.
Selbstverständlich spielen die Frauen eine andere Rolle als die Männer im "Islamischen Staat" – und das ist der große Widerspruch: Wie kann es sein, dass Frauen aus europäischen Gesellschaften, in denen sie Gleichberechtigung erleben, sich freiwillig in Gesellschaften begeben, in denen sie den Männern untergeordnet sind. Mir wurde von Forschungsmitarbeitern berichtet, dass diese Frauen häufig aus gesellschaftlichen Zusammenhängen in den westlichen Staaten kommen, in denen sie keine Freiheit und Selbstbestimmung erfahren haben. Sie kamen aus eher traditionell-konservativen Familienverhältnissen, die sie auch stark kulturell geprägt haben.
So unglaublich das klingen mag, aber für diese Frauen ist, der Schritt zum "Islamischen Staat" schon fast so etwas wie ein Akt der Befreiung. Und genau auf diese Frauen zielen die Dschihadisten auch mit ihrer Propaganda ab, indem sie Versprechen geben, wie etwa: "Kommt zum 'Islamischen Staat'! Dort seid Ihr zwar den Männern grundsätzlich untergeordnet, aber Ihr nehmt für den IS auch eine ganz wichtige Rolle ein: Ihr erzieht nämlich die nächste Generation der Kämpfer und unterstützt Eure Männer". Bei aller Unterdrückung nehmen diese Frauen doch eine eigenständige Rolle ein, wahrscheinlich in den Augen mancher eine noch viel eigenständigere als in Westeuropa, von woher sie ursprünglich kamen.
Das Interview führte Michael Erhardt.
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