Rückkehr der alten Eliten durch die Hintertür
Seit sieben Wochen protestieren Hunderttausende im Libanon gegen die grassierende Korruption und die anhaltende Finanzkrise. Wie beteiligen Sie sich persönlich an den Aufständen?
Nizar Hassan: Ich bin Teil der Arbeitsgruppe für direkte Aktionen der politischen Bewegung "LiHaqqi" ("Für mein Recht"), die als erste Gruppe am Donnerstag, dem 17. Oktober, zu Protesten aufrief, als wir erfuhren, dass die Regierung eine neue Steuer auf WhatsApp einführen wollte. Diese Steuer bedeutete die regressivste Form der Besteuerung, da für jeden WhatsApp-Anruf pro Tag 20 Cent verlangt werden sollten. Das hätte vor allem die ärmsten Menschen in unserer Gesellschaft getroffen, die sich normale Telekommunikationsgebühren nicht leisten konnten. Deshalb haben wir die Leute aufgerufen, dagegen zu protestieren - und das zog innerhalb weniger Stunden Tausende in die Innenstadt Beiruts. In den nächsten drei Tagen wurde es der größte Protest in der Geschichte des Libanon. Am Samstag und Sonntag war das ganze Land beeinträchtigt, jeden Tag haben Menschen aus Protest die Straßen blockiert, das normale öffentliche Leben kam zeitweise zum Erliegen.
Von diesem Moment an hat sich meine persönliche Rolle dahingehend verschoben, die wirtschaftlichen und politischen Forderungen der Bewegung klar zu formulieren, außerdem schreibe ich Analysen über das Geschehen.
Ministerpräsident Saad Hariri und seine Regierung sind als Antwort auf die Aufstände bereits Ende Oktober zurückgetreten. Worin bestehen die weiteren Forderungen der Protestierenden?
Hassan: Wir wollen eine Regierung, die unabhängig von den politischen Parteien, den Bankiers und Immobilienspekulanten ist, und nicht beeinflusst wird von der Elite, die seit 30 Jahren vom Wirtschaftssystem profitiert. Diese unabhängigen Expertinnen und Experten sollen vorgezogene Neuwahlen organisieren, Schritte zur Bewältigung der Wirtschaftskrise einleiten und anfangen, die Korruption zu bekämpfen.
Wie sind die Protestierenden organisiert?
Hassan: Wir haben politische Bewegungen oder Parteien, die vor dem Aufstand gegründet wurden. Einige von ihnen sind mehr Basisbewegungen ohne Parteistruktur, andere stützen sich auf nur wenige Individuen oder erfolgreichen Facebook-Seiten. Und dann gibt es noch Gruppen, die aus den Protesten hervorgegangen sind und die sich größtenteils auf WhatsApp organisieren. Sie koordinieren gezielt Aktionen, zum Beispiel das Blockieren von Straßen, andere diskutieren oder planen persönliche Treffen. Es gibt bestimmt Zehntausende WhatsApp-Gruppen im ganzen Land, ich persönlich bin in 40 von ihnen.
Auf welche Strategien setzt die libanesische Regierung im Umgang mit der Protestbewegung?
Hassan: Sie nutzt konterrevolutionäre Strategien: Politiker veröffentlichen zum Beispiel Propaganda gegen Straßensperren, indem Sie Straßensperren mit Grenzübergängen vergleichen. Das bringt das Trauma des Bürgerkriegs zurück, zumal damals Gebiete durch Checkpoints getrennt wurden und Menschen mit einem anderen konfessionellen Hintergrund nicht auf die andere Seite durften. Außerdem gibt es gewalttätige Angriffe auf Protestierende, zum Beispiel kamen Unterstützer der schiitischen Amal und Hisbollah Parteien auf die Straße, um Demonstrantinnen und Demonstranten zu verprügeln oder ihre Zelte anzuzünden. Die Angriffe haben nicht nur den Zweck, Protestierende abzuschrecken, sondern auch Anhänger dieser Parteien, damit sie sich den Aufständischen nicht anschließen. Gleichzeitig versuchen die politischen Kontrahenten dieser beiden Parteien, die Bewegung zu kooptieren, indem sie sich den Protesten anschließen. Das schafft die Idee von Rivalitäten auf den Straßen und zerstört den Eindruck eines geeinten Aufstands gegen das Establishment.
[embed:render:embedded:node:38333]Welche Rolle spielt die Hisbollah bei den politischen Verhandlungen?
Hassan: Die Hisbollah ist die konterrevolutionäre Garde. Sie macht im Grunde genommen das, was alle politischen Parteien möchten, aber nicht können: Die Schuld auf sich zu laden, diejenigen zu sein, die gegen die Revolution sind. Sie können sich das leisten, weil sie über die effektivsten Propagandamaschinen verfügen und noch immer über die stärkste Unterstützung innerhalb aller Altersgruppen verfügen, insbesondere bei jungen Menschen.
Wie sind Libanons Politiker mit dem Bankensystem verbunden?
Hassan: Politiker und ihre Familien sind eng mit dem Bankensektor sowie dem Immobilien- und Importsektor verbunden. Sie besitzen Anteile an Banken, oft wurden Bankiers als Minister ernannt. Das Steuersystem ist gegenüber den Banken sehr voreingenommen. Politiker, Bankiers, Immobilien- und Entwicklungsunternehmen bilden eine bürgerliche Allianz, die ihre Interessen bedient und seit dem Ende des Bürgerkrieges 1990 die Wirtschaftspolitik kontrolliert.
Es herrscht ein Mangel an US-Dollar-Reserven im Land, die sonst den Wert des libanesischen Pfunds (Lira) stabilisiert haben. Wie wirkt sich die Wirtschaftskrise auf die Menschen aus?
Hassan: Aufgrund der Abwertung auf dem Markt haben die Ersparnisse der Menschen in Lira knapp 40 Prozent ihres Wertes in US-Dollar verloren. Unternehmen sind stark betroffen, weil sie für ihre Geschäfte Produkte von außerhalb importieren und diese in Dollar bezahlen müssen. Die Regierung fährt seit mehr als zwei Jahren eine Austeritätspolitik. Sie gibt weniger für Sozialleistungen und öffentliche Investitionen aus. Das schadet der wirtschaftlichen Entwicklung und verschlechtert die ohnehin schon hohe Arbeitslosenquote.
Wenn nicht Sparmaßnahmen, wie könnte denn Ihrer Ansicht nach die Lösung für die Finanzkrise aussehen?
Hassan: Wir müssen die Rückzahlung der Staatsschulden aufschieben, damit der Staat zumindest einen Teil davon zurückzahlen kann, ohne bankrott zu werden. Langfristig müssten Investitionen im produzierenden Sektor politisch gefördert werden. Unser Wirtschaftsmodell hat die Menschen ermutigt, das Geld bei den Banken zu deponieren und dafür hohe Zinsen zu ergattern. Es braucht einen progressiven Schuldenschnitt. Zum Beispiel könnte der Staat bei Menschen mit mehr als einer Millionen Dollar Vermögen einen Teil des Geldes beschlagnahmen, das sie mit dem hohen Zinssatz der Banken verdient haben. Rund 0,5 Prozent der Bevölkerung besitzt knapp die Hälfte des Vermögens im libanesischen Bankensektor. Wenn wir die alleine ins Auge nehmen, richten wir uns an Millionäre und Multimillionäre. Gleichzeitig schützen wird die Arbeiterklasse und diejenigen, die als Mittelschicht gelten, vor einem Schuldenschnitt.
Übergangsregierungschef Saad Hariri hat angekündigt, dass er nicht für das Amt kandidieren will.
Hassan: Die Regierungsparteien haben sich darauf geeinigt, Anteile an den kommenden Kabinettssitzen zu verteilen und jede Partei kann entscheiden, ob sie von Technokraten oder bekannten Politikern vertreten wird.
Bezüglich des Namens eines neuen Regierungschefs ist ein Teil seiner Rede unbemerkt geblieben. Er sagte, der Ministerpräsident und die Regierung müssten den Forderungen der Menschen entsprechen, insbesondere denen der Frauen, die politische Führungsstärke bewiesen hätten. Damit bereitet er den Weg für die Innenministerin der vorherigen Regierung, Raya Hassan, als nächste Premierministerin. Sie arbeitet seit mindestens 10 Jahren eng mit ihm zusammen.
Hariri kann sie als erste Ministerpräsidentin in der arabischen Welt verkaufen, zusammen mit einer Reihe von Technokraten, die bisher politisch wenig bekannt sind. Das würde wie eine "coole" Regierung aussehen, aber mit denselben politischen Paradigmen in der Wirtschaftspolitik, die immer noch die wirtschaftliche Elite repräsentieren. Zwar ist Hassans Name offiziell vom Tisch, aber ich glaube, dass er noch in der obersten Schublade liegt. Doch es ist schwer vorherzusagen, wie die herrschende Klasse reagiert und wie die Antwort der Leute darauf ausfallen wird.
Das Interview führte Julia Neumann.
© Qantara.de 2019
Nizar Hassan ist politischer Analyst, Aktivist und Podcaster in Beirut. Er ist Mitbegründer der progressiven politischen Bewegung "LiHaqqi" ("Für meine Rechte"), untersucht soziale Bewegungen und setzt sich für die Rechte von Arbeitern ein. In seinem Podcast "The Lebanese Politics Podcast" analysiert er wöchentlich die libanesische Politik.