Hass mit Liebe bekämpfen
Wir sind es heute gewöhnt, dass Selbstmordattentäter als blutrünstige Irre, extremistische Muslims oder hilflose Junkies dargestellt werden. Warum charakterisieren Sie den Protagonisten von "Song of Gulzarina", einen Selbstmordattentäter, als "anständigen" Menschen?
Tariq Mehmood: An Menschen, die das Leben Unschuldiger zerstören wollen, ist nichts Anständiges, und auch nicht an der Kette von Ereignissen, die Menschen in die Irre führen – das gilt vor allem dann, wenn ihr Hass nicht aus religiösen Überzeugungen, Sektierertum oder auch Rache entspringt. Hinter dem Terroranschlag, den meine Hauptfigur in Manchester plant, steckt ein schrecklicher Schmerz, aber dieser Schmerz entsteht auch aus einer verlorenen Liebe. Ich habe in meinem Roman "Song of Gulzarina" versucht, diese Komplexität widerzuspiegeln.
In Ihrem Buch werden die im Westen verübten Anschläge als Resultat der Kriege erklärt, die die westlichen Länder im Südteil des Globus führen, und als eine Folge des staatlich geförderten Terrorismus. Was hat Ihrer Meinung nach die jüngste Häufung von Selbstmordanschlägen in Europa verursacht?
Mehmood: In den westlichen Ländern herrschte der Eindruck vor, dass immer der Westen das Opfer terroristischer Anschläge ist; das Problem wird somit sehr gezielt zu einem Problem der Außenpolitik gemacht. Dazu kommt die selektive Erinnerung, die den Terrorismus der Rechtsextremen isolierten Einzeltätern zuschiebt, wie beispielsweise Anders Breivik, der in Norwegen 77 Menschen ermordete; ebenso verhielt es sich beim Mord an Jo Cox in Großbritannien oder dem Anschlag von Finsbury Park, ganz zu schweigen von den täglichen Terrorakten in den USA.
Der Terrorist in meinem Roman gehört dem Westen wie dem Osten an. Aber es ist kein geografisch definierter "Westen". Es ist einer, der ihn kolonisiert hat und ihn verlockt hat, sich für ihn abzurackern, der ihn verroht und terrorisiert hat. Es ist sein "östlicher" Teil, der blutet, und sein "westlicher" Teil, der verletzt.
Die Wurzeln seiner Handlungsweise liegen in seinem permanenten Leiden, einem Leiden, das weit zurückreicht. Eine Gewalttat kann man nicht im Moment des Aufflammens von Brutalität verstehen, sondern nur in ihrem historischen Kontext, und deshalb muss man die Frage stellen: Was können diejenigen Länder und ihre Verbündeten, die selbst Tod und Verderben gesät haben, denn anderes erwarten?
In Ihrem Roman spielen Rassismus und Islamfeindlichkeit eine wichtige Rolle als Handlungsmotive Ihrer Figur. In welchem Maß beeinflussen diese Faktoren die politischen Ansichten der Muslime in Großbritannien?
Mehmood: Wäre die neue Welle von Rassismus eine antisemitische und nicht eine antiislamische, würde niemand die Juden fragen, welche Auswirkungen sie auf ihre politischen Ansichten hat. Auch wenn wir den neuen Rassismus besonders stark empfinden, ist der alte nicht verschwunden. Das wollte ich mit einer Kurzgeschichte mit dem Titel „English Lions“ verdeutlichen, die ich kürzlich geschrieben habe:
1976. Ein Park in Bradford. Ein weißer Junge kommt auf mich zu:
Weißer Junge: Sprichst du Paki?
Ich: Du machst dich lustig über mich, oder?
Weißer Junge: Los, sag mal was.
Ich: Hau ab, du Volltrottel.
2016. Ein Park in Manchester. Ein weißer Junge kommt auf meinen Sohn zu:
Weißer Junge: Sprichst du Muslimisch?
Mein Sohn: Du willst mich verarschen.
Weißer Junge: Los, sag was.
Mein Sohn: Bumm, bumm!
In einem weiteren wichtigen Erzählstrang - neben dem politischen – schildern Sie eine komplexe Dreiecksgeschichte. In diesem Beziehungsgeflecht wird die Grausamkeit gezeigt, mit der Saleem Khan seine Frau, die Mutter seines einzigen Kindes, behandelt. Warum geht er mit seiner englischen Geliebten anders um?
Mehmood: Saleem Khan ist nicht unbedingt eine sympathische Figur, er hat gravierende Schwächen. Aber er ist nicht mit ihnen auf die Welt gekommen, er wurde zu dem gemacht, der er ist. Er behandelt beide Frauen nicht besonders freundlich und weiß das auch. Sein Handeln entsteht aus Situationen heraus, in denen er noch gefangen ist. Dadurch, dass die Widersprüche der Figur aufgedeckt werden, bekommen wir jedoch die Chance, die fiktionale Handlung voranzutreiben.
Glauben Sie, dass Literatur das Potenzial hat, stereotype Sichtweisen aufzubrechen, die im herrschenden Narrativ die Darstellung des Terrorismus prägen?
Mehmood: Die Mainstream-Medien brauchen ihre Klischees, weil sie selbst für ihre Daseinsberechtigung sorgen müssen. Indem wir Schmerz, Liebe und Freude als Erfahrungen unserer materiellen Existenz in eine fiktionale Landschaft stellen und ihr in der Welt der Phantasie eine Existenz verschaffen, haben wir die Möglichkeit, Bomber mit Worten, Hass mit Liebe, Macht mit Poesie zu bekämpfen. Wenn wir an unseren eigenen Geschichten festhalten – und wir alle haben Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden, denn das macht das Menschsein aus – wird die Dominanz der Mainstream-Medien allmählich verblassen.
Das Interview führte Changiz M. Varzi.
© Qantara.de 2017
Übersetzt aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff