"Unsere Politik bürgernah und transparent machen"
Atef Abu Saif, 46 Jahre alt, wuchs im Flüchtlingslager Djabaliya in Gaza auf. Dort war sein Zuhause, dort hat er sein Leben verbracht. Als Dozent hat er an der Al-Azhar-Universität in Gaza-City Politologie unterrichtet, Bücher geschrieben (unter anderem das kürzlich auch ins Deutsche übersetzte "Frühstück mit der Drohne", ein Tagebuch aus dem Gaza-Krieg 2014) sowie Gastkolumnen für den "Guardian" und die "New York Times". Bis zu jenem brutalen Überfall am 18. März, als ein Trupp maskierter Schläger ihn, den Fatah-Mann, halbtot prügelte und die Finger der rechten Hand brach – gezielte Strafe für einen, der es wagte, das Hamas-Regime zu kritisieren. Im April wurde Abu Saif von Präsident Mahmud Abbas zum Kulturminister im neuen Kabinett der palästinensischen Autonomiebehörde ernannt.
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Wie geht es inzwischen Ihrer rechten Hand?
Atef Abu Saif (bewegt die Finger): Sie sind wieder in Ordnung.
Was hat sich genau an jenem 18. März abgespielt? Wer stand hinter dem Überfall?
Abu Saif: Ich denke nicht gerne daran, für mich ist der Vorfall Vergangenheit. Allgemein lässt sich sagen, dass es etwa 25 Leute waren, die mich angriffen. Ich hatte gerade einen Freund besuchte, der fragte: "Wer seid ihr?", und sie erwiderten: "Die Hamas!".
Es geschah während der Protesttage in Gaza, als Hamas-kritische Palästinenser mit dem Slogan "Wir wollen leben" auf die Straße gingen…
Abu Saif: Ja, ich habe in der Zeit vier, fünf Interviews in arabischen Medien gegeben. Nicht als Fatah-Mitglied, sondern als Bürger, der kundtun wollte, dass es sich um legitime Demonstrationen junger Frauen und Männer handelte, die ein besseres Leben wollen. Ich habe ihre Forderungen verteidigt und gesagt, dass diese Demonstranten unsere Unterstützung verdienen. Keiner in Gaza hat für sie das Wort ergriffen, ich war der Einzige. Die meisten von ihnen waren meine Studenten. Ich habe sie gesehen, als sie nach den Festnahmen und Verhören, einhergehend mit Folter und Demütigungen, ein paar Tage später freigelassen wurden.
Die Polizei hat sie geschlagen?
Abu Saif: Nicht nur das. Sie wurden wie Schlachtvieh an den Füßen aufgehängt. Ich habe öffentlich darüber gesprochen, dass eine solche Behandlung inhuman ist.
Können Sie sich vorstellen, nach Gaza zurückzukehren, solange dort die Hamas herrscht?
Abu Saif: Hören Sie, wir Palästinenser haben keinen anderen Platz als Palästina. Ich kann mir ein Leben in Europa nicht vorstellen. Die Hamas hat mich bereits vor dem letzten Vorfall fünfzig Mal in Arrest genommen. Wann immer etwas passierte, haben sie mich einbestellt und für ein, zwei Tage festgehalten.
Das heißt ein Leben in ständiger Angst?
Abu Saif: Natürlich. Die Hamas ist der Wärter im großen Gefängnis namens Gaza. Das ist die unausgesprochene Wahrheit. Es gibt eine israelische Belagerung und eine Hamas-Belagerung, sie ergänzen sich, um die Bevölkerung in Gaza zu kontrollieren. Aber ich überlasse ihnen nicht die Entscheidung, ob ich in meinem Land leben kann. Selbst wenn sie mich töten.
Woher nehmen Sie den Mut?
Abu Saif: Die Hamas sähe gerne, wenn wir säkulare, liberale Intellektuelle allesamt aus Gaza verschwinden. Wenn man an eine Idee glaubt, muss man dafür kämpfen.
Was ist Ihre Idee?
Abu Saif: Meine Großmutter musste 1948 Jaffa verlassen, wo sie ein reiches Leben führte. Sie kam ins Flüchtlingscamp Djabaliya. Ihr Mann, mein Großvater, floh im Krieg 1967 nach Jordanien. Sie weigerte sich mitzugehen. Uns Kindern hat sie später eingeschärft, dass Al-Nakba (die palästinensische Flucht von 1948) ein Fehler war, den wir nicht noch mal machen dürfen. Vielleicht ist Gaza der schlimmste, dreckigste, überbevölkerte Platz dieser Welt. Ein Ort, beherrscht von Fundamentalisten. Aber es ist ein Platz, an dem ich zuhause bin.
Ihre Frau und Kinder sind noch dort?
Abu Saif: Ja, nach dem Ramadan hole ich sie nach Ramallah. Aber ich werde Gaza weiter besuchen.
Wie sehen Sie Ihre Rolle als Minister in der neuen, von Fatah-Politikern dominierten Autonomieregierung unter Premier Mohammed Shtayyeh?
Abu Saif: Ich bin einer von drei Kabinettsmitgliedern unter fünfzig Jahren, also ein Repräsentant der jüngeren Generation. Die Regierungsneubildung kam in einer komplizierten Situation zustande. Nach dem Kollaps der Vereinbarung über nationale Einheit mit der Hamas und nach den von den USA und Israel verhängten Sanktionen gegen die Autonomiebehörden. Auch mit Blick auf den angekündigten Trump-Deal brauchen wir jetzt eine politische Regierung statt wie bislang eine aus Technokraten.
Nichts hat die Palästinenser so geschwächt wie politische Spaltung, hier die Fatah im Westjordanland, dort die Hamas in Gaza. Wäre nicht gerade jetzt ein vereintes Vorgehen nötig?
Abu Saif: Der Hamas kommt die Trennung gelegen, um an der Macht zu bleiben, die sie 2006 mit Gewalt an sich gerissen hat. Ich sage nicht, dass die Fatah daran unschuldig war. Aber nachdem die Islamisten in Ägypten, Libyen und Tunesien gescheitert sind, ist Gaza das einzige, was für die Muslimbruderschaft übriggeblieben ist. Für ihren Ableger, die Hamas, zählt das mehr als der nationale Traum.
Ist nicht Präsident Abbas für die Misere in Gaza mitverantwortlich? Schließlich hat seine Kürzung von Finanzhilfen die Bevölkerung weit härter getroffen als die Hamas…
Abu Saif: Im Dezember haben wir diese Maßnahmen wieder zurückgestutzt. Aber dann hat Israel einen Teil der uns zustehenden Steuergelder einbehalten, wogegen wir uns mit der Weigerung gewehrt haben, die Restsumme zu akzeptieren. Davon abgesehen muss die Hamas, wenn sie Gaza kontrolliert, auch die Regierungsverantwortung übernehmen. Es kann doch nicht sein, dass wir die Straßen planieren oder ein Hospital bauen und dann kommt Ismael Haniya als oberster Hamas-Repräsentant, um die Projekte feierlich einzuweihen. Wir geben Gaza nicht auf, das sind unsere Landsleute. Aber wir wollen nicht das Hamas-Regime in Gaza finanzieren.
Im Juni will die US-Regierung ihren Friedensplan vorstellen, Donald Trumps sogenannten Jahrhundert-Deal. Nach allem was zu hören ist, kommt ein palästinensischer Staat darin nicht vor. Wie wird die Autonomieführung darauf reagieren?
Abu Saif: Die Entscheidung trifft Abbas. An unserem Grundprinzip wird aber auch Trump nichts ändern: Wir Palästinenser werden von diesem Land nicht verschwinden. Letztlich müssen sich die Israelis entscheiden, ob sie mit uns Frieden schließen wollen. Sonst haben sie langfristig keine Zukunft hier. Schauen Sie, meine Familie hat über tausend Jahre in Jaffa gelebt. Ich kenne meine Vorfahren alle bei Namen. Ich bin bereit zu akzeptieren, dass Jaffa zu Israel gehört, solange uns Gaza und das Westjordanland bleibt. Die Netanjahu-Regierung lehnt das ab. Was erwarten Sie von mir? Dass ich noch mehr aufgebe? Wir haben fast achtzig Prozent unserer alten Heimat hergegeben. Und jetzt sollen wir auch noch die restlichen Prozent teilen? Nein! Das macht keinen Sinn.
Was hat Ihre Regierung der jungen Generation zu bieten? Viele glauben längst nicht mehr an den Traum ihrer Eltern von einem eigenen Staat. Sie wollen ein normales Leben.
Abu Saif: Ich weiß keine einfache Antwort darauf. Wenn die junge Generation aufgibt, ist unsere Sache verloren. Wir müssen wieder für neue Hoffnung sorgen. Aber wir leben unter Besatzung. Ob wir Jobs schaffen können, hängt von Israel ab. Zumindest eines werden wir tun: Meinungsfreiheit respektieren und unsere Politik bürgernah und transparent machen. Premier Shtayyeh hat sich dazu verpflichtet. Kein Palästinenser darf wegen seiner kritischen Meinungen verhaftet werden. Dafür stehe auch ich.
Das Interview führte Inge Günther.
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