"Die Flüchtlinge sind Teil der jordanischen Politik"
Herr Bank, Jordanien hat mehr Syrienflüchtlinge aufgenommen als alle EU-Staaten zusammen. Wie kann ein so kleines Land das stemmen?
André Bank: Jordanien hat viel geleistet. Seit Ende 2012 kamen in relativ kurzer Zeit mehrere Hunderttausend Syrerinnen und Syrer ins Land. Sie haben den Pass vorgezeigt, wurden registriert und konnten sechs Monate bleiben, ohne Visum, ohne Probleme. Für die Grundversorgung der Menschen hat Jordanien immense Kosten auf sich genommen. Die Leute brauchten Wasser, mussten medizinisch versorgt werden. Seit Ende 2013 allerdings ist die Nordgrenze Jordaniens weitgehend dicht.
Wie erklären Sie sich diese anfängliche Offenheit?
Bank: Die Flüchtlinge ziehen nicht nur Kosten nach sich. Die Immobilienbesitzer in Nordjordanien etwa haben aus der Situation massiv Kapital geschlagen. Wohnungen und Garagen wurden zu Preisen vermietet, die bis zum Zwölffachen über dem üblichen Preis lagen. Ähnlich sieht es auf dem inoffiziellen Arbeitsmarkt aus. In vielen Unternehmen arbeiten Syrer für ein Fünftel oder Sechstel des üblichen Lohns. Die Syrer haben keine Arbeitserlaubnis und keinerlei Rechte. Die billige Arbeitskraft wird ausgebeutet.
Jordanien profitiert also von dem Krieg im Nachbarland?
Bank: Teilweise. Die Kosten für die Grundversorgung waren wie gesagt hoch. Andererseits hat es einen massiven Zustrom an Geld gegeben, in Form von humanitärer Hilfe und Entwicklungshilfen. Wichtiger aber noch ist: Jordanien hat an geostrategischer Bedeutung gewonnen. Das Land liegt in einer sehr volatilen Region, ist selbst aber stabil, und wird kräftig hofiert sowie finanziell unterstützt. Israel braucht einen Puffer in der Krisenregion. Saudi-Arabien braucht eine weitere stabile Monarchie. Aber auch für die EU und die USA ist Jordanien ein wichtiger Partner. Im Falle eines Destabilisierungsprozesses in Jordanien käme es wohl zu einer konzertierten Aktion, um das Land zu stabilisieren. Das Königshaus hat also profitiert, ebenso wie einige Jordanier, die Masse der Bevölkerung nicht unbedingt.
Wie viele Syrer sind seit 2011 nach Jordanien gekommen?
Bank: Die Zahlen gehen weit auseinander. Das UNHCR spricht von knapp 650.000 registrierten Flüchtlingen. Viele sind aber nicht registriert. Der jordanische König Abdallah II. nannte im Zuge der Londoner Geberkonferenz vom vergangenen Februar die Zahl 1,3 Millionen. In regierungsnahen Zeitungen habe ich sogar schon von zwei Millionen gelesen.
Das sind große Unterschiede…
Bank: Ich gehe von 800.000 bis zu einer Million syrischen Flüchtlingen in Jordanien aus. Höhere Zahlen sind Politik. Mit den Flüchtlingszahlen wird versucht, Gelder zu akquirieren. Je höher die Zahlen, desto wichtiger ist, dass Jordanien stabil bleibt. Selbst der König hat davon gesprochen, dass Jordanien kurz vor dem Zusammenbruch stehe. So etwas sagt er in besonders drastischen Worten, wenn internationale Verhandlungen um Hilfsgelder anstehen. Ich beobachte das seit vielen Jahren. Vor Verhandlungen wird dieses Argument vorgetragen. Das ist strategisches Kalkül.
Der König erpresst die Geberländer?
Bank: Ich will das nicht kritisieren. Die Ansprüche sind legitim, wenn man bedenkt, was Jordanien geleistet hat im Vergleich zu wohlhabenderen Ländern. Die Golfstaaten, Europa und die USA könnten das Problem viel leichter bewältigen als Jordanien. Gleichwohl darf man sich nicht der Illusion hingeben, dass das Geld, das nach Jordanien geschickt wird, gänzlich bei den Bedürftigen ankommt. In Jordanien gibt es massive Klientelnetzwerke und einen ausgeprägten Staatsapparat. Die Gelder werden über den Staat kanalisiert und bleiben dort zu einem nicht unerheblichen Teil hängen. Ein Monitoring, was dort wirklich ankommt, ist kaum existent.
Wie viel Geld hat Jordanien seit 2011 an Hilfe bekommen?
Bank: Die humanitären Hilfsgelder belaufen sich auf mehrere Milliarden Euro. Allein bei der Konferenz in London wurden den Hauptaufnahmeländern knapp sechs Milliarden US-Dollar versprochen. Jordanien dürfte hiervon einen signifikanten Anteil erhalten. Das ist eine große Summe für ein Land, das mit insgesamt zehn bis 15 Milliarden pro Jahr haushaltet. Hauptgeber waren Großbritannien, Deutschland, die Emirate und Kuwait. Die Logik: Wir kaufen uns von der Verantwortung für die direkte Betreuung der Flüchtlinge frei.
Neben der humanitären Hilfe gibt es aber noch die klassische Entwicklungshilfe. Viele neue Programme erwähnen explizit die Herausforderungen durch den Syrienkrieg. Und nicht zuletzt profitiert Jordanien durch Militärhilfe. In Jordanien bilden die Amerikaner Kämpfer der syrischen Opposition aus, was von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten mitfinanziert wird. Dafür hat Jordanien Extra-Gelder bekommen.
Hat Jordanien bislang bei der Aufnahme von Flüchtlingen zwischen Christen, Muslimen und anderen unterschieden?
Bank: Eine Differenzierung nach Konfession gab es nicht, wobei die meisten Flüchtlinge sunnitische Muslime aus dem ländlichen Raum sind. Wer allerdings nicht reingelassen wurde, sind Palästinenser aus Syrien. Das Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser ist eine kaum erzählte Tragödie. Eine Zeit lang ab es in der Wüste zwischen Syrien und Jordanien ein Lager, in dem mehrere Tausend Menschen aus dem ehemaligen palästinensischen Flüchtlingscamp Yarmuk südlich von Damaskus festsaßen. Sie waren gestrandet, weil die Jordanier sie nicht reinließen.
Warum ausgerechnet die Palästinenser?
Bank: In Jordanien leben bereits sehr viele Palästinenser. Man ist vorsichtig, weitere palästinensische Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, da viele von ihnen in politischen Organisationen wie der Fatah, der Hamas, der PFLP oder der DFLP aktiv sind. Das sind Gruppen, mit denen der jordanische Staat in der Geschichte immer wieder in Konflikt geraten ist.
Die Palästinenser in Jordanien werden teils noch als Flüchtlinge bezeichnet, obwohl sie schon seit Jahrzehnten in Jordanien leben. Spielt die Einwanderungsgeschichte eine Rolle in der gegenwärtigen Krise?
Bank: In Jordanien leben verschiedene große Flüchtlingscommunities. Neben den Palästinensern, die nach der Gründung Israels 1948 und dem Sechs-Tage-Krieg 1967 nach Jordanien kamen, kehrten nach dem Golfkrieg 1991 mehrere Hunderttausend Palästinenser nach Jordanien zurück, die in den 1970er und 80er Jahren zum Arbeiten in die Golfstaaten gegangen waren.
Als Saddam Hussein Kuweit besetzte unterstützte Jordanien den Irak. Die Palästinenser galten als fünfte Kolonne Saddams und wurden rausgeworfen. Diese Rückkehrer waren weitgehend wohlhabend, was in Amman in den 1990er Jahren zu einem Bauboom und einer Immobilienblase führte. Eine weitere Gruppe sind die Iraker, die nach dem dritten Golfkrieg kamen, vor allem 2006 und 2007. Sie haben sich fast ausschließlich in Amman niedergelassen. Auch sie haben in Jordanien kräftig investiert. Viele sind weiter migriert, aber 300.000 bis 400.000 sind in Jordanien geblieben.
Werden auch die Syrer investieren und die jordanische Wirtschaft ankurbeln?
Bank: Nein, sozialstrukturell sind das sehr unterschiedliche Gruppen. Damals kam die irakische Mittelschicht ins Land, die unter Saddam Hussein gut gestellt war. Viele von ihnen waren sunnitische Iraker aus dem Großraum Bagdad, nicht wenige Anhänger des alten Regimes. Noch heute leben Teile der Familie Husseins in Amman, seine Tochter etwa. Die Syrerinnen und Syrer sind überwiegend benachteiligte Kriegsflüchtlinge, eine deutlich ärmere Bevölkerungsschicht.
Beunruhigt das die Jordanier? Bestimmen die Flüchtlinge wie in Deutschland den öffentlichen Diskurs?
Bank: Die Debatte hat sich ein Stück weit entspannt. Aktuell sind Flüchtlinge kein solch großes Thema mehr wie in den Jahren 2013 und 2014. Im Alltag dienen Syrer aber oft als Sündenböcke, für die steigenden Preise zum Beispiel. Das Tragische ist der Schulterschluss der verschiedenen Communities in Jordanien. Palästinenser, Iraker und Jordanier geben den Syrern die Schuld. Da ist schon ein Muster erkennbar: Als die Iraker 2006 und 2007 nach Jordanien kamen, waren es die Palästinenser und Jordanier gegen die Iraker. Es geht gegen die Neuankömmlinge. Aus Deutschland habe ich noch nicht gehört, dass Migrantencommunities mit Pegida und der AfD gegen Flüchtlinge mobilisieren. Fairerweise muss man dabei aber sagen, dass es in Jordanien im Gegensatz zu Deutschland nur wenig Gewalt gegen Syrer gegeben hat. Die Konflikte sind meist verbaler Natur.
Das Gespräch führte Jannis Hagmann.
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