"Ich existiere nur, wo meine Sprache Flügel hat"
In Ihrem Essay "Der Mythos vom Paradies Europa" schreiben Sie "Das Gedächtnis verharrt dort, wo es zur Welt kam." Sie wurden 1966 in Irakisch-Kurdistan geboren. Ist Kurdistan Hauptbezugspunkt Ihrer Erinnerung, Ihres künstlerischen Schaffens geblieben?
Bachtyar Ali: Unser Gedächtnis kann uns quälen und krankmachen. Schreiben hilft mir, meine Erinnerungen als stückweit unpersönlich zu betrachten und stärker als allgemeine Erfahrungen einer Generation zu behandeln. Ich bin thematisch im Orient und in Kurdistan geblieben, nicht nur, weil der Orient uns starke literarische Stoffe liefert, sondern weil die Menschen dort in Gefahr sind: Extremismus und politischer Hass haben diesen Teil der Welt zerstört. Wir Autoren und Intellektuelle müssen dem etwas entgegensetzen.
Im gleichen Text schreiben Sie über die produktive Kraft der Flucht. Wie lässt sich diese künstlerisch nutzen?
Ali: Flucht hilft uns, unsere "normale" Ordnung der Welt zu hinterfragen und eine nationalistische Aufteilung der Welt, die trotz Globalisierung vorherrscht, als inhuman zu erkennen. Flucht kann ein guter Grund sein, uns mehr und mehr vom Nationalismus zu befreien. Sie hilft uns, eine neue, universelle Weltanschauung zu kreieren, die nichts mit Globalisierung im ökonomischen Sinne zu tun hat. Im Grunde genommen ist Kunst von Flucht nicht zu trennen, weil die Kunst selbst eine Art von Flucht ist. Nur in der Kunst können diese universalen Werte, die durch Flucht geboren sind, verkörpert werden.
In den 1990er Jahren mussten Sie Kurdistan verlassen. Wie kam es dazu und welche Gefühle hegen Sie heute für das Land?
Ali: Ich war Herausgeber der philosophischen Zeitschrift Azadi (Freiheit). Meine Tätigkeiten als Journalist und Autor haben viele Politiker verärgert. Im Jahr 1994 ist im Nordirak ein blutiger Bürgerkrieg ausgebrochen (Anm. Red.: Gemeint ist der als birakujî ("Bruderzwist") bekannte, in den 1990er Jahren gewaltsam ausgeführte Machtkampf zwischen verschiedenen kurdischen Parteien). Ich und meine Freunde bei der Zeitschrift standen unter großem Druck. Es gab regelmäßige Drohungen von unterschiedlichen Seiten, wir konnten nicht mehr im Land bleiben. Ich bewundere die Willensstärke und die Beharrlichkeit der Menschen in Kurdistan. Diese Eigenschaften haben den Menschen geholfen, schreckliche Zeiten zu überstehen. Ich verachte alle Politiker, aber für die einfachen Menschen dort habe ich immer noch großen Respekt.
Wie kam es, dass Sie sich dem Schreiben zugewandt haben?
Ali: Ich schreibe, um die Grenzen der Realität zu durchbrechen. Ich schreibe, um die Bedeutung der Freiheit von politischen Illusionen zu befreien. Mich frei zu fühlen und für diese Freiheit zu kämpfen, ohne politisch aktiv zu sein, war immer ein Ziel meiner schriftstellerischen Arbeit.
Sie leben seit mehr als 20 Jahren in Deutschland. Doch erst im Jahr 2016 wurde ein Roman von Ihnen ins Deutsche übersetzt. Kannte Sie Ihr deutsches Umfeld als Künstler?
Ali: Den Kurden bin ich seit 1992 bekannt. Aber hier in Deutschland konnte ich mich bislang nicht als Autor vorstellen. Ein Musiker oder ein Maler kann überall zeigen, dass er ein Künstler ist. Aber als Autor existiere ich nur dort, wo meine Sprache lebt und Flügel hat. Wo meine Sprache nicht klingt, da bin ich auch nicht. Meine Sprache ist nicht meine Nationalität, sie ist die Vorbedingung für meine Existenz als Autor.
Unter Kurden aus dem Irak, aber auch in Syrien und der Türkei gehören Sie zu den hochgeachteten Autoren. Wie ist Ihr Eindruck: Lesen kurdische und deutsche Leser anders?
Ali: Von kurdischen Lesern werden Texte zumeist politisch interpretiert, der Autor wird je nach seiner politischen Richtung als Teufel oder Prophet betrachtet. Das ärgert mich sehr, denn einen Text muss man frei von politischen Vorurteilen lesen. Auch manche europäischen Leser können sich nicht von "1001 Nacht" befreien. Orientalische Kultur wird häufig auf zwei Dimensionen verkürzt: "1001 Nacht" plus Islamismus, das hat nichts mit der Realität zu tun. Leider wissen viele westliche Leser sehr wenig über den Orient und dessen Geschichte. Der Mangel an Informationen ist immer gefährlich und erschwert die Kommunikation.
Ihre Romane wurden jeweils von zwei Übersetzern im Team übersetzt: Welche Geschichte steht dahinter?
Ali: Peshawa Fatah und Rawez Salim haben aus purer Leidenschaft meine Texte übersetzt: ein Geist der Beharrlichkeit, des unermüdlichen Bestrebens steht hinter diesem Prozess. Die beiden hatten keinerlei Hoffnung, dass die Übersetzung veröffentlicht wird und haben dennoch unermüdlich daran gearbeitet. In der zweiten Phase kamen dann Ute Cantera-Lang und Hans-Ulrich Müller-Schwefe hinzu, die beide echte Lektoratsarbeit geleistet haben. Der Glaube an Literatur und die Liebe zur Literatur stehen hinter den Übersetzungen.
Was müsste dafür getan werden, damit kurdischsprachige Literatur noch stärker wahrgenommen wird?
Ali: Wir brauchen mehr kulturelle Arbeit und Übersetzungen. Niemand kann uns helfen, wenn wir Kurden es nicht selbst tun. Nur auf den Straßen zu demonstrieren und Fahnen zu schwenken, ist nicht genug. Das bringt keine Änderung für die Kurden. Wir sollten aufhören, die Opferrolle zu spielen.
Verfolgt man die Geschehnisse in Ihrer Heimat gibt es wenig Grund zum Optimismus: Glauben Sie an eine politische Lösung für die Kurden?
Ali: Ohne eine echte Demokratie im Orient wird es keine politische Lösung für die Kurden geben. Diktatoren haben kein Interesse an einer friedlichen Welt. Die Militärregierungen in Nahost brauchen ein Feindbild und haben die Kurden zum ewigen Feind erklärt. Sie profitieren von dieser Situation. Der Faschismus ist im Orient mit Nationalismus verbunden. Ohne einen Sieg über den Nationalismus wird es keine radikale Wende geben.
Ihr Roman "Die Stadt der weißen Musiker" ist eine Hymne auf die Macht des Erzählens. Sind Sie Optimist: Kann die Kunst den Menschen retten?
Ali: Kunst kann uns helfen, Verdrängtes wiederzufinden. Das ist ihre große Kraft. Der Orient ist ohne Widerstand nicht denkbar. Aber Widerstand zu führen, ohne Blut und Schrecken zu verbreiten, ist nicht einfach. Die Kunst ist eine friedliche Form des Widerstandes und der Rettung. Natürlich spreche ich hier nicht von messianischer Rettung oder einer historischen Rettung im marxistischen Sinne. Ich spreche mehr von Rettung als einem alltäglichen Prozess: die Rettung der Liebe, der Werte, des Lebens. Kunst kann dazu beitragen, dass diese Fähigkeiten zum Widerstand und zur Rettung in uns stark und wach bleiben.
Das Interview führte Sonja Galler.
© Qantara.de 2018
Bachtyar Ali, der wohl bekannteste lebende kurdische Schriftsteller, wurde 1966 in Sulaimaniya (Süd-Kurdistan/Nordirak) geboren. Bekannt ist Ali vor allem für seine vom magischen Realismus inspirierten Romane sowie seine offene Kritik an den politischen und sozialen Verhältnissen in seiner Heimat. Seit Mitte der neunziger Jahre lebt Ali in Deutschland. Sein umfangreiches Werk, das neben Romanen auch Gedichtbände und Essays umfasst, ist im südkurdischen Dialekt Sorani geschrieben. Auf Deutsch sind bislang zwei seiner Romane erschienen (beide im Unionsverlag Zürich). 2017 wurde Ali mit dem Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund ausgezeichnet.