"Ich sehe bei allen ein Beklopptheitssyndrom"
Über Seehofers Aussage "Der Islam gehört nicht zu Deutschland" wird in jüngster Zeit kontrovers diskutiert. Von einigen Seiten gibt es hierfür Applaus, von anderer Seite erntet der Innenminister aber auch viel Empörung und Kritik. Wie nehmen Sie die gegenwärtig reflexartig erfolgenden Reaktionen und die Islamdebatte insgesamt wahr?
Feridun Zaimoglu: Es ist ja nicht das erste Mal, dass ein Politiker sich hinstellt und ein Bekenntnis absondert. Ich bin kein Mann der Bekenntnisse und der hohlen Phrasen. Seehofer ist zwar ein Wiederholungstäter, aber ich blieb trotzdem gelassen. Man sollte wirklich jetzt diese Rituale des Entsetzens und der Empörung lassen. Aber ich muss leider auch Folgendes feststellen: Es gibt eine bundesdeutsche Krankheit, und das ist der Wille zur sofortigen Eskalation und zur Empörung. Da geben sich die Beteiligten nichts. Ich war in der Vergangenheit immer recht verblüfft darüber, dass man ein Denkschema immer in Stellung brachte: die Debattenkultur. Aber ich musste dann feststellen, hier wird nicht debattiert, sondern es sind Hysteriker zur Gange, die dieses oder jenes behaupten. Ich fände es zum Beispiel sehr gut, wenn Herr Seehofer den Koran aufschlägt. Dort wird er immer wieder auf den folgenden Satz stoßen: "Habt ihr denn keinen Verstand?!".
Es ist ja nicht das erste Mal, dass über diese Frage, ob nun der Islam oder nur die Muslime zu Deutschland gehören, öffentlich diskutiert wird. Und man hat das Gefühl, man steckt in einer Dauerschleife fest, weil sich diese Debatte immer wieder in bestimmten Zeitabständen wiederholt. Dabei sind es meist dieselben Argumente, die die eine Seite der jeweils anderen vorhält, ohne dass es einen nennenswerten Fortschritt gibt…
Zaimoglu: Die Frage, die sich mir immer wieder stellt, lautet: Freunde, fällt Euch nichts Neues ein? Also, wenn es eine Zermürbungstaktik ist, in diesem öden Spiel immer wieder tote Gäuler zu reiten, dann ist das den Beteiligten tatsächlich gelungen. Aber nun muss auch mal Schluss sein. Und da dies mein Land ist, in dem ich lebe, komme ich auch nicht ohne harte Kritik umhin. In Deutschland lässt sich eine ziemliche Nabelschau beobachten. Man sollte nicht so oft von demokratischer Streitkultur sprechen, sondern vielmehr sich auch daran halten. Und man sollte endlich von reinen Phrasen loskommen. Vielleicht wäre es ratsamere, sich mit den Belangen des wirklichen Lebens auseinanderzusetzen?
Und an meine Glaubensschwestern und meine Glaubensbrüder gewendet möchte ich sagen, dass sie keine Zeit damit verschwenden sollten, sich mit alten Parolen von Leuten, die morgen vielleicht nicht mehr im Amt sind, zu befassen. Aussagen wie diese sind nicht neu und lassen einen altern, wenn man sich ernsthaft damit befasst. Ich glaube, hier hat man es mit einer – und das gilt für die meisten, die bei diesem eitlen Spiel mitmachen – klinischen Angstneurose zu tun.
Wenn man Teile der muslimischen Verbandslandschaft betrachtet, hat man auch nicht den Eindruck, dass sich dort eine originär deutsche Selbstverortung feststellen ließe…
Zaimoglu: Da kommt nichts! Man wird nicht mal selig werden, wenn man ernsthaft glaubt, dass hierzu von Verbandsvertretern und Religionsfunktionären ein wirklich prickelnder Gedanke kommt. Ich sehe, dass sie sich als Heimatvertriebenenverbände konstituiert haben. Ich sehe, dass sie für das deutsche Leben und für deutsche Muslime nicht das Geringste beitragen. Und ich sehe auch, dass sie sich in Beleidigungsritualen ergehen. Ich sehe Geschrei. Wir sind hier in Deutschland, und ich glaube, das haben sie nicht realisiert, und das wollen sie auch nicht realisieren. Nun ist das Leben aber sehr brutal. Es wird so sein – und da sehe ich schon die ersten Anzeichen – dass diese Funktionäre, die immer beleidigt aufjaulen, überrollt werden von den Phänomenen. Sie sind für mich flackernde Phantome. Sie beziehen sich nicht auf dieses, auf unser Land, sie beziehen sich auf ein imaginiertes Jenseits. Es sind viele frische Muslime da draußen, die keine Lust haben, einem solch illusionären Denken anzuhängen.
Sind sich dann Seehofer und manche Verbandsfunktionäre, die sich über seine Aussage empören, nicht in gewisser Art und Weise ähnlich? Wenn man sich als "deutscher Muslim" bezeichnet, wie Sie es tun, dann erntet man von beiden Seiten irritierte Blicke. Die eine Seite sieht im Islam per se etwas Fremdes, die andere Seite begreift die Selbstverortung als "deutscher Muslim" automatisch als Zurückweisung der türkischen Identität. Wie sehen Sie das?
Zaimoglu: Sie sind tatsächlich Brüder im Geiste, denn es sind Identitätshöker. Ein deutscher Muslim, so er denn die Augen aufreißt und sich nicht versteckt, wird ganz sicher nicht bemüht sein, für eine überkommene Identität zu kämpfen. Einbildung ist im Grunde genommen das Schlagwort der Stunde. Denn wir haben es bei den Streithähnen eigentlich nur mit Menschen zu tun, deren Argumentationen eigentlich längst überkommen sind. Wir dürfen uns wirklich nicht irremachen lassen, doch leider tun es viele.
Auf dem Markt da draußen wird um Stimmen und um Seelen gefeilscht. Doch nun sollte man sich bitte schön von diesem Lärm abwenden. Das tun zwar auch viele, aber leider Gottes gibt es eben auch Muslime, die immer noch einem reaktionären Bild von Heimatverbundenheit anhängen. Was kommt für mich als Muslim zuallererst? Das ist die Hingabe an den einen Gott. Der Realitätsverlust und die Wahnverstrickung haben in der Vergangenheit dazu geführt, dass die Muslime gewissermaßen nicht vom Fleck gekommen sind. Dieser Realitätsverlust, diese Wahnverstrickung kam aber nicht von außen, das waren nicht die bösen Europäer…
Wir haben in den letzten Jahren unzählige Islamdebatten erlebt, die politische Landschaft hat sich mit der AfD verändert, aber auch das türkisch-identitäre Gedankengut ist insbesondere in den letzten Jahren sichtbarer geworden. Welche Perspektiven haben Ihrer Ansicht nach die in Deutschland lebenden Muslime in dieser gegenwärtig spannungsgeladenen Atmosphäre?
Zaimoglu: Ein Muslim kann kein Identitärer sein. Punkt. Ein Muslim kann keine Lust empfinden, Teil eines ideologischen Konzepts zu sein. Ich habe mich in der Vergangenheit immer wieder darüber ausgelassen, dass es heute ganz sicher nicht darum geht, Kontur zu gewinnen, indem man sich zum Gespenst der Vergangenheit erklärt. Wir sind keine Geister. Ich sehe tatsächlich das identitäre Moment, übrigens nicht nur bei den Türken, Kurden und bei den deutschstämmigen Deutschen, sondern auch bei den Russlanddeutschen und Polnischstämmigen. Ich sehe bei allen ein Beklopptheitssyndrom. Unter diesem Beklopptheitssydrom verstehe ich den Wahn, sich als Diaspora zu sehen. Himmelherrgott nochmal! Ein türkischstämmiger Deutscher, der hier in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, sollte nicht so feige sein, sich der Wirklichkeit zu entziehen, sondern er sollte – und dazu gehört auch kein großer Mut – einfach mal die eigenen Verhältnisse verstehen. Die Flucht vor der Wirklichkeit führt den Menschen nur dazu, dass er zur Salzsäule erstarrt. Diese konservierten Heimatgefilde in manchen Parallelgesellschaften zeugen ja davon, wohin es führt, wenn man die Augen vor der Fülle der Fakten verschließt.
Man hat insbesondere in den letzten Jahren das Gefühl, dass muslimische Verbände unter dem Eindruck des Rechtspopulismus und auch ganz aktuell der zunehmenden Übergriffe auf Moscheen und Muslime sich einer gewissen Marginalisierung fügen, und einige nehmen diese Marginalisierung auch an.
Zaimoglu: Isolation ist Gift. Wer sich selbst ethnisiert, hat ein Problem. Wer nicht Verantwortung übernimmt, sondern davon spricht, dass die Gesellschaft einem Makel und Fehler aufdrückt, der hat ein Problem. Es geht hier um Reifung. Unreifen Persönlichkeiten ist es zu eigen, die Schuld bei anderen zu suchen oder bei anderen abzuladen. Was für die einzelne Person gilt, gilt natürlich in diesem Zusammenhang auch für den Zusammenschluss von Menschen, egal ob sie sich nun an ein religiöses oder identitäres Bild klammern. Man muss da rauskommen. Und dies ist keinesfalls eine Durchhalteparole. Eine Durchhalteparole wäre es, sich darin zu bestärken, weiter zu verhärten und paranoid zu werden.
Ich beobachte diese aufgehende Paranoia übrigens auch bei vielen selbstethnisierten Frauen und Männern, die hier eigentlich ihr selbstgemachtes Elend übergehen. Also noch einmal: rausgehen, klüger werden, vielleicht zur deutschen Nüchternheit zurückfinden.
Das Interview führte Eren Güvercin.
© Qantara.de 2018
Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im anatolischen Bolu, lebt seit seinem sechsten Lebensjahr in Deutschland. Er studierte Kunst und Humanmedizin in Kiel. Zu seinen Bestsellern zählen die Romane "Leyla" und "Liebesbrand", zuletzt erschien 2015 "Siebentürmeviertel". Zaimoglu erhielt zahlreiche Literaturauszeichnungen, darunter 2002 den Hebbel-Preis, 2003 den Preis der Jury beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt und 2005 den Adelbert-von-Chamisso-Preis. Im Jahr 2015 war er Stadtschreiber von Mainz, 2016 wurde ihm der Berliner Literaturpreis verliehen. Im gleichen Jahr erhielt Zaimoglu die Ehrenprofessur des Landes Schleswig-Holstein.