“Ich bin entsetzt über die Hartherzigkeit"

Israeli peace activist and former director of the Sulha Peace Project Yoav Peck
"Es wird mehrere Generationen brauchen, um die rassistischen Paradigmen zu verwandeln. Nichts davon kann beginnen, solange noch Menschen sterben", sagt der israelische Friedensaktivist Joav Peck. (Foto: Voices for Peace/ Wordpress.com)

Yoav Peck, Friedensaktivist und ehemaliger Direktor des “Sulha Peace Project”, spricht über den Gaza-Krieg, die Verhärtung der Fronten in Israel und mögliche Zukunftsvisionen.

Interview von Marian Brehmer

Herr Peck, wie haben Sie persönlich die vergangenen sieben Monate erlebt?  

Yoav Peck: Der Anfang war ein totaler Schock. Ich war mir sicher, dass wir militärisch reagieren müssten. Der Schrecken des Hamas-Angriffs und das totale Versagen Israels, unser Volk zu schützen, haben mich erschüttert. Nach zwei Wochen war klar, dass Israel mit Truppen in Gaza einmarschieren wird. Ich hatte große Angst, dass es tatsächlich so kommen würde, wie es gekommen ist. 

Ich hatte Angst, dass Israel in einem schrecklichen Morast versinken würde, dass wir zur fünften Großoffensive in den Gazastreifen einmarschieren und uns damit nur noch weiter von jeder Chance auf eine Friedensregelung entfernen werden. Bereits sehr früh habe ich mich gegen den Krieg ausgesprochen, zu einem Zeitpunkt, als selbst meine liberalen Freunde noch unentschlossen waren. Jetzt bin ich zutiefst besorgt, dass wir keine Lösung finden werden, die beiden Seiten gerecht wird.  

Ungeachtet aller internationalen Warnungen hat Israel seine Bodenoffensive in Rafah begonnen. Wie ist die Stimmung im Land?   

Peck: Wir sind gespalten. Einige Israelis drängen weiterhin auf einen "totalen Sieg über die Hamas" und unterstützen die Aktivitäten in Rafah. Viele andere, und nicht nur Liberale und Linke, sind davon überzeugt, dass der Einmarsch in Rafah uns nur noch weiter von einer Verhandlungslösung entfernt.  
 
Weiterhin schlachten wir unschuldige Bewohner des Gazastreifens ab, ohne dabei einen Unterschied zu machen. Die Stimmung ist düster, sehr düster. Viele Israelis sind verzweifelt. Viele planen, das Land zu verlassen. Die meisten Israelis glauben, dass die Befreiung der Geiseln Vorrang vor einem militärischen "Erfolg" haben sollte, als ob es überhaupt einen militärischen Erfolg geben könnte. Immer mehr Israelis sind der Ansicht, dass die über 600 gefallenen Soldaten umsonst, für nichts und wieder nichts gestorben sind.  

Wut und Trauer über 600 tote Soldaten

Wie sind Ihre Freunde von den Workshops des "Sulha Peace Project“ vom Krieg betroffen?  

Peck: Auch wenn ich nicht mehr für Sulha arbeite, nehme ich immer noch an den Treffen teil. Alle Genehmigungen für Palästinenser aus dem Westjordanland sind schon vor dem 7. Oktober, während der jüdischen Feiertage, aufgehoben worden. Das heißt, dass unsere Kollegen aus dem Westjordanland nicht mehr einreisen können.  
 
Also hat Sulha Workshops mit Palästinensern aus Ostjerusalem und Israelis veranstaltet. Immer noch besteht die Hoffnung, dass diese Treffen Einzelpersonen inspirieren können. Doch alle Aktivitäten sind von einer Atmosphäre der Verzweiflung umgeben — vor allem, weil viele palästinensische Freunde von Sulha Familienangehörige in Gaza haben.  

Ist es möglich, den Geist von Sulha am Leben zu erhalten? 

Peck: Jeder, dessen Geist durch die Ereignisse gebrochen wurde, muss bei sich selbst überprüfen, wie verwurzelt dieser Geist überhaupt war. Wenn man tief in seinem Herzen an die Möglichkeit von Frieden, Solidarität und Versöhnung glaubt, kann kein Umstand dies zerstören. Aber ja, es gibt bei vielen Leuten ein neues Misstrauen. Viele Israelis waren enttäuscht, dass unsere palästinensischen Freunde den Anschlag der Hamas vom 7. Oktober nicht klar verurteilt haben.  

In einem Ihrer letzten Beiträge schrieben Sie: "Wir werden niemals Frieden erreichen, solange die Ungerechtigkeit der Besatzung besteht. Die Besatzung beschmutzt unsere Seelen." Was für ein Feedback erhalten Sie von Ihren israelischen Mitbürgern, wenn Sie solche Aussagen machen?  

Peck: Die meisten anständigen Israelis — nicht nur die "Peaceniks" — verstehen, dass eine anhaltende Besatzung keine Zukunft bietet, dass sie schlichtweg untragbar ist. Andere denken, dass wir Sicherheit bekommen, solange wir das Westjordanland besetzen. Sie reagieren wütend auf mich.  
 
In vielerlei Hinsicht herrscht in Israel und Palästina bereits Apartheid. Wir haben getrennte Straßen, Gesetze und Gerichte. Wir haben unterschiedliche Standards für das Kernland Israels und für die besetzten Gebiete. Sind wir "offiziell" ein Apartheidstaat? Nein, aber de facto sind wir es bereits.  

Ein großer Teil Ihrer Arbeit mit Sulha bestand darin, durch das Teilen von persönlichen Geschichten Empathie zu schaffen. Wie erklären Sie sich den Mangel an Empathie in Israel für die palästinensische Seite? 

Peck: Ich bin entsetzt über die Hartherzigkeit, die ich bei vielen Israelis beobachte. Die Menschen schaffen es nicht, auf Gaza zu schauen, ohne die 1400 israelischen Opfer des 7. Oktobers zu sehen. So schrecklich das auch war, das sind weniger als vier Prozent der Palästinenser, die wir getötet haben.  

Die Leute sagen: "Ich habe keinen Raum für ihr Leiden... ich bin zu sehr mit unserem eigenen beschäftigt." Das kann ich nicht akzeptieren. Das Problem ist, dass dieses Trauma fortwährend ist. Immer noch sind die Medien jeden Tag voll von "7. Oktober-Geschichten". Und jeden Tag werden weitere Soldaten getötet. Das Oktober-Trauma wird also immer wieder neu aktiviert. 57 Jahre Besatzung haben viel dazu beigetragen, dass wir für das Leiden der Palästinenser unempfänglich geworden sind.

Palästinensische Tote zählen nicht

Bitte berichten Sie über Ihre Erfahrungen berichten, die Sie in den letzten Monaten beim Demonstrieren für den Frieden gemacht haben.  

Peck: Die Unterdrückung durch die Regierung ist ungebremst. Dreimal hat mir die Polizei meine Anti-Kriegs-Plakate aus den Händen gerissen. Ich habe im Rahmen des Anti-Besatzungs-Blocks bei einer breiteren Kundgebung demonstriert, die sich hauptsächlich auf die Freilassung der Geiseln konzentriert hat.  

Bei jeder Demonstration tauchen rechtsgerichtete Netanjahu-Anhänger auf, um uns zu schikanieren. Dann kommt es zu Gewalt. Die Polizei ist fast jedes Mal gewalttätiger, als sie es sein müsste. Ihr Chef — der Schläger Itamar Ben Gvir — spornt die Polizisten ganz offensichtlich an, härter als nötig gegen Demonstranten vorzugehen, um so die Ordnung aufrechtzuerhalten. Vor kurzem haben Polizisten bei einer Demonstration in Tel Aviv die Familien von Geiseln zusammengeschlagen.  

Gibt es auch irgendeinen hoffnungsvollen Aspekt, den Sie in den letzten Monaten erlebt haben?  

Peck: Wir haben einige multireligiöse Demonstrationen mit palästinensischen Christen und Muslimen durchgeführt, was sehr ermutigend ist. Hoffnung gibt mir, dass nun drei Länder einen palästinensischen Staat anerkannt haben, dass Biden seine Waffenlieferungen einschränkt und gegen Netanjahu Haftbefehle erlassen wurden. Wir brauchen internationalen Druck — starken Druck "mit Zähnen" — der unsere Regierung dazu zwingt, zu erkennen, dass der einzige Weg Verhandlungen sind.  

Sie haben sich vor fünfzig Jahren in Israel niedergelassen. In was für ein Land sind Sie damals gezogen und was sehen Sie jetzt?  

Peck: Israel war 1972 ein freundlicheres Land. Wir waren wärmer zueinander. Netanjahu und die Besatzung haben uns härter, egoistischer, intoleranter und rassistischer gemacht. Aber es gibt immer noch einen Kern von anständigen, wunderbaren Israelis, die ich auf Demonstrationen treffe. Sie geben mir Hoffnung.  

Einige Beobachter meinen, in diesem Krieg würden der Westen und seine Heuchelei in Bezug auf die Förderung von Menschenrechten und Demokratie entlarvt. Erleben wir mit dem aktuellen Krieg die Dekonstruktion eines imperialistischen Mythos?  

Peck: Ich hoffe sehr, dass diese Analyse richtig ist. Es ist möglich, dass diese katastrophale Zeit zu einem großen Durchbruch führen wird. Dazu muss die Regierung Netanjahu abgelöst werden und es müssen Maßnahmen ergriffen werden, um den Palästinensern das Leben zu erleichtern, was nur zum Vorteil Israels sein kann. Der Frieden mit den Palästinensern wird auch einen Teil der Motivation von Hisbollah und dem Iran nehmen, gegen Israel zu agieren. 

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Versöhnung wird Zeit brauchen

Wie sieht die Vision aus, die Sie von nun an für Israelis und Palästinenser aufbauen möchten, und wie kann diese erreicht werden?  

Peck: Die Vision, die wir hoffentlich aufbauen können, wird mehr oder weniger so aussehen: Israel und die Hamas einigen sich darauf, die Feindseligkeiten einzustellen, alle Geiseln und Tausende von palästinensischen Gefangenen in ihre Häuser zurückzubringen. Dann planen sie den Weg zu Beziehungen zwischen den Nachbarn im Gazastreifen, in Israel und im Westjordanland, die von beiderseitigem Nutzen sind.  

Dies kann durch die Wahl guter Führungspersönlichkeiten und die Mobilisierung des Friedensgeistes unter Israelis und Palästinensern erreicht werden. Diese Region könnte zu einem stabilen Modell werden, von dem die Welt lernen kann, wenn wir es nur schaffen, die Dinge gemeinsam zu wenden. 

Irland ist dafür ein gutes Beispiel: In Nordirland wurde vor 26 Jahren das Karfreitagsabkommen unterzeichnet. Die Menschen dort sind sich bewusst, dass es noch viele Jahre dauern wird, die begangenen Verbrechen zu bewältigen und die Opfer zu heilen. Es wird mehrere Generationen brauchen, die rassistischen Paradigmen zu verwandeln.  

Nichts davon kann beginnen, solange noch Menschen sterben. Nordirland ist nicht perfekt, aber die Menschen dort können Schritte der Heilung unternehmen, weil man sich nicht mehr gegenseitig umbringt. So wie Fidel Castro sagte, nachdem der letzte Schuss in Havanna gefallen war: "Jetzt beginnt die Revolution". 

Das Interview führte Marian Brehmer. 

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