Explosiver Hass
In Ihrem letzten Roman "Das Ministerium des äußersten Glücks" aus dem Jahr 2017 machen Sie sich über die Premierminister Indiens lustig: Manmohan Singh ist ein Kaninchen mit Turban und bei seinem Nachfolger, Narendra Modi, bemerken Sie sein erstaunliches Brustvolumen von 1,42 Metern, das er im letzten Wahlkampf in fast jeder Rede als Ausdruck seiner Männlichkeit und Stärke hervorhob. Können Sie noch immer über die politischen Führer dieses Landes lachen?
Arundhati Roy: Charaktere in einem Roman sind zusammengesetzte Charaktere. Und das Lachen in der Literatur oder im Leben hat nichts mit Unbeschwertheit zu tun. Tatsächlich ist dieses Lachen eines der größten Dinge, die im Moment passieren: den Faschisten, Modi und all den schrecklichen Dingen, die geschehen, wird mit Humor begegnet. Das ist das erste Zeichen dafür, dass die Menschen sich weigern, diese Autoritäten oder Gegebenheiten zu akzeptieren. Es hat also nichts damit zu tun, etwas nicht ernst zu nehmen. Lachen ist eine sehr politische Sache.
Viele indische Schriftsteller ziehen es vor, in den USA oder in Großbritannien zu leben. Sie wohnen seit Jahrzehnten in Neu Delhi. Aber Ihren letzten Roman haben Sie in einer Art temporärem Exil in London beendet. Warum?
Roy: Es ist wahr, dass ich gegangen bin, weil ich Angst hatte. Aber ich kam nach zehn Tagen zurück, weil ich eigentlich nicht gehen wollte. Kurzum: Ich war vorübergehend in Panik. Zuvor gab es einen massiven Angriff auf Universitäten, auf Studenten, auf Lehrer, auf Professoren, auf den Lehrplan. Studentische Aktivisten wurden angegriffen, inhaftiert, vor Gericht zusammengeschlagen, kurz bevor die Verhandlung begonnen hatte. Dann gab es noch diesen niveaulosen TV-Sender, der damals sehr populär war. Der Moderator sagte: "Ja, das sind diese Studenten, und sie tun all diese schrecklichen Dinge. Aber wer ist eigentlich der Kopf dahinter? Wer hat über die Staudämme geschrieben? Wer über den Angriff auf das Parlament? Über Kaschmir? Und wer hat den Atombombentest kritisiert? Es ist diese Frau, die noch immer nicht hinter Gittern ist."
Es war, als würde man mich an den Mob verkaufen. Das ist mir schon mal passiert, aber diesmal war ich buchstäblich nur noch Wochen davon entfernt, meinen Roman fertigzustellen, an dem ich seit zehn Jahren gearbeitet hatte. Ich war sehr verletzlich, denn ich wollte auf keinen Fall in eine Situation kommen, in der ich ihn nicht beenden könnte. Also verlor ich einfach die Nerven und ging. Aber dann fühlte ich mich dermaßen verzweifelt, sodass ich wieder zurückkam.
Seit langer Zeit weisen Sie auf die Fusion neoliberaler und rechtsextremer Politikströmungen in Ihrem Land hin. Das passiert nicht nur in Indien, sondern ist heute leider auch in vielen anderen Staaten zu beobachten. Aber in Indien ist diese Verschmelzung sehr weit vorangeschritten. Wie ist es dazu gekommen?
Roy: Darüber schreibe ich seit nunmehr zwanzig Jahren. Es begann in den späten 1980er und zu Beginn der 90er Jahre. Damals, unter der Kongressregierung, wurden zwei Schleusen geöffnet: zum einen durch die Behauptung, die Babri Majiid, die Moschee in Ayodhya, sei in Wirklichkeit der Geburtsort des hinduistischen Gottes Ram. Und zum anderen durch die Öffnung des indischen Marktes. Das hat zwei Arten von Totalitarismus befördert: einen neoliberalen Marktfundamentalismus und diesen religiösen, chauvinistischen Hindutva-Nationalismus. Sie beide umwerben einander. Manchmal erscheinen diese Fundamentalismen zwar als widersprüchlich - der eine als mittelalterlich, der andere als modern. Doch tatsächlich bilden sie ein Liebespaar.
Während des letzten großen Pogroms 2002 in Gujarat war Narendra Modi damals Chefminister dieses Bundesstaates. Mehr als 1.000 Menschen wurden damals getötet, überwiegend Muslime. Bis heute werfen viele Menschenrechtsaktivisten, Juristen und Journalisten Narendra Modi vor, das Blutbad zugelassen und anschließend sogar gerechtfertigt zu haben. Wie konnte es sein, dass große indische und internationale Konzerne wie die Ambanis, Tatas, Mittals, Adanis und sogar Goldman Sachs ausgerechnet auf ihn setzten?
Roy: Die neue Wirtschaftspolitik brauchte einen starken Mann, sie brauchte eine Skrupellosigkeit bei der Vertreibung von Menschen, bei der Übernahme von Land, bei der Änderung der Arbeitsgesetze. Als er 2014 für das Amt des Premierministers in den Wahlkampf zog, verschwanden die Safranfarben (Symbol der Hindutva-Anhänger) und er zog einen Geschäftsanzug an. Und traurigerweise feierten dann sogar viele liberale Intellektuelle seine Ankunft als Premierminister auf eine Weise, die ich für beschämend hielt. Sie versuchten, das Massaker von Gujarat auszulöschen, sie taten so, als ob die Hindutva, die Agenda der Hindu-Rechten, der Vergangenheit angehörte.
Die Bharatiya Janata Party (BJP) Modis ist der politische Flügel einer viel größeren politischen Organisation. Worin besteht ihr ideologischer Hintergrund?
Roy: Die BJP ist nicht die Macht in Indien, es ist eine Organisation namens RSS, die "Rashtriya Swayamsevak Sangh", die 1925 nach dem Vorbild von Mussolinis Schwarzhemden gegründet wurde. Ihre Anhänger sprechen offen darüber, Indien zur hinduistischen Nation zu erklären und haben schon immer gesagt, dass die Verfassung geändert werden muss. Und Modi ist - wie fast alle BJP-Minister und Abgeordnete – Mitglied der Organisation. Jede Institution in Indien ist von der RSS durchdrungen worden - ob Armee, Universitäten, Gerichte oder Nachrichtendienste.
Islamophobie ist ein Kernelement der Hindutva-Ideologie. Wie wirkt sich das, abgesehen von der Anwendung brachialer Gewalt im Alltag, auf die 150 Millionen Muslime in Indien aus? Erheben deren Organisationen öffentlich die Stimme gegen Diskriminierung und die Politik der Regierung?
Roy: Sie sind zwar gut organisiert, haben aber natürlich große Angst. Und sobald sie öffentlich Kritik üben, isolieren sie sich mehr und mehr. Weil die Leute dann sagen: "Oh, schau' sie dir an – sie sind organisiert, also sind sie auch gefährlich." Der Raum, in dem sie sich bewegen, ist eng und angstbesetzt. Diese Enge spiegelte sich auch im vergangenen Wahlkampf wider: Die Kongresspartei spricht nicht über Muslime. Denn sie weiß, dass sie sofort als “muslimische” Partei bezeichnet würde. Also muss nun auch die Kongresspartei zeigen, wie "hinduistisch" sie ist.
Wie würden Sie die Rolle der internationalen Gemeinschaft in Hinblick auf Modis Regierungspolitik beschreiben?
Roy: Die USA hatten Modi nach dem Gujarat-Pogrom von 2002 ein Visum verweigert. Aber nachdem er Premierminister wurde, war er viele Male dort und hat sämtliche Präsidenten umarmt. Der Westen ist opportunistisch. Für ihn ist Indien ein riesiger Markt, und Indien erscheint als eine Art wunderbares Investitionsziel. Deshalb musste Modi irgendwie weiß gewaschen werden. Moral ist wie ein Rezeptbuch. Sie richtet sich nach den Zutaten, die verfügbar sind. Und nach den Aktienkursen.
Letztes Mal trafen wir uns im Jahr 2009, kurz vor den damaligen Parlamentswahlen. Haben Sie irgendwelche Erwartungen an das Ergebnis der aktuellen Wahlen zur Lok Sabha?
Roy: Indien ist heute ein anderer Ort, es ist viel gefährlicher als noch vor zehn Jahren. Denn das gesamte Ausmaß an Hass – ein Hass, der sich hier mehr und mehr angesammelt hat –, die unzähligen Lügen, gefälschten Botschaften, die Änderungen der Lehrpläne, nicht von heute auf morgen verschwinden werden. Dieser aufgestaute Hass existiert bis heute und wird irgendwann einmal explodieren. Ganz unabhängig davon, was bei diesen Wahlen herauskommt.
Das Interview führte Dominik Müller.
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