"Die Uiguren sollen ihrer Identität beraubt werden"
Frau Shi-Kupfer, Sie verfolgen die Situation in Chinas westlichster Provinz seit langem. Worum geht es genau in diesem Konflikt?
Kristin Shi-Kupfer: Der Konflikt um Xinjiang und um die Uiguren ist sehr komplex. Primär ist es aus Pekinger Sicht ein geostrategischer Konflikt. Xinjiang – oder Ostturkestan, wie die Uiguren sagen – ist eine sehr rohstoffreiche Region und ein wichtiger Teil der so genannten Seidenstraßeninitiative…
…ein Großprojekt, mit dem China Straßen, Bahngleise, Pipelines, Telekommunikationsnetze, Häfen und Flughäfen von Asien bis nach Europa und Afrika bauen will.
Shi-Kupfer: Genau. Die Region Xinjiang spielt bei diesen Plänen eine wichtige Rolle und soll dementsprechend unter Kontrolle gebracht werden.
Aber der Konflikt mit den Uiguren reicht doch schon viel weiter zurück als die Seidenstraßeninitiative?
Shi-Kupfer: Ja, die Uiguren sind aus Sicht Pekings traditionell einer der größten Unruhestifter innerhalb der Volksrepublik, weil sie immer wieder versucht haben, ihren Autonomiestatus in Richtung Unabhängigkeit auszudehnen. Also es geht Peking ganz klar auch darum separatistische Tendenzen zu verhindern, die ansonsten möglichweiser auch andere Volksgruppen ermutigen könnten, mehr Unabhängigkeit anzustreben. Die Tibeter zum Beispiel.
Tibeter und Uiguren unterscheiden sich durch ihre religiöse Identität von den Han-Chinesen, die etwa 92 Prozent der Bevölkerung Chinas ausmachen. Welche Rolle spielt das für Peking?
Shi-Kupfer: Eine große! Die Religion ist aus Sicht Pekings vor allem brisant, weil sie Organisationsstrukturen bietet, die für Peking immer gefährlich sind. Aufgrund der Moscheen und der Gemeinschaften, die sich dort bilden und auch aufgrund der Netzwerke, die es ja in der Tat auch zu islamistischen und zu gemäßigten Muslimen im Ausland gibt. Und dann ist da natürlich auch die spirituelle Dimension. Also dass es eine andere Art von Loyalität gibt und dass man sich dadurch auch weniger fürchtet Konflikte einzugehen. Weil man eben als gläubiger Muslim um das Versprechen weiß, dann jenseits dieser Welt gegenüber Allah Frieden finden zu können. Ein gläubiger Mensch ist nicht so leicht auf eine weltliche Partei einzuschwören und ist auch etwas unerschrockener gegenüber weltlichen Drohungen, weil er eben weiß, dass er letztendlich aufgehoben ist in seiner Beziehung zu Gott.
Können Sie den "uigurischen Islam" etwas näher beschreiben?
Shi-Kupfer: Die Uiguren, die ich kenne, haben immer eher eine liberale Form des Islams praktiziert. Also in der Tat eher eine freiere Form, die nicht so sehr extremistischen oder sehr orthodoxen Schulen nahe stand. In den Familien war es beispielsweise immer sehr wichtig, dass auch Mädchen zur Schule gehen, dass die Universitäten besuchen können. Und auch das Verhältnis zwischen Ehemann und Ehefrau war immer ein sehr respektvolles und ausgewogenes.
Allerdings ist die Religion in den letzten Jahren zunehmend zu einem Identitätsmerkmal für die Uiguren geworden. Sei es äußerlich, indem man sich zum Beispiel einen Bart wachsen lässt oder sich entsprechend kleidet, aber vor allem auch durch den sehr regelmäßigen Besuch von Moscheen. Nach all dem, was ich höre und lese aus der Region, ist das noch mal wichtiger geworden in den letzten fünf bis sechs Jahren. Teilweise in der Tat auch in eine Richtung, die extremistischen Predigern sehr viel mehr Boden geliefert hat.
Das heißt die Extremismusvorwürfe, die Peking gegen die Uiguren erhebt, sind nicht rein aus der Luft gegriffen?
Shi-Kupfer: Natürlich hat es in den letzten Jahren eine Fokussierung auf den Islam und auch immer wieder islamistisch motivierte Anschläge gegeben. Interessant ist, dass Wissenschaftler wie Iliham Tohti…
…ein uigurischer Wirtschaftsprofessor, der seit Februar 2013 in chinesischer Haft sitzt und im vergangenen Jahr den Sacharow-Preis des EU-Parlaments erhielt…
Shi-Kupfer: …frühzeitig davor gewarnt haben, dass wenn die Uiguren zu sehr unter Druck geraten – wenn sie auch sozial und wirtschaftlich marginalisiert werden, dass dann extremistische Strömungen im Islam Überhand nehmen können. Und das ist in der Tat ein Phänomen, das wir jetzt beobachten können.
Gibt es einen Wendepunkt, an dem die uigurische Gesellschaft begann sich so zu verändern, wie Sie es eben beschrieben haben?
Shi-Kupfer: Ich denke, 2009 war ein sehr entscheidendes Ereignis für die Uiguren. Da fanden die großen Demonstrationen in Urumqi, der Hauptstadt der Region statt. Es ging eine Geschichte voraus von einer vermeintlichen, tatsächlichen Vergewaltigung von uigurischen Frauen in Südchina. Zunächst gab es friedlichen Protest, das ist dann eskaliert. Rückblickend weiß keiner mehr so ganz genau wer angefangen hat, die Han-chinesischen Polizisten oder die Uiguren. Danach begann in Xinjiang eine sukzessive Verfolgung, Unterdrückung, Überwachung, die sich zu dem entwickelt hat, was wir heute haben. Diese massiven Umerziehungslager.
Ich war zuletzt 2011 in Urumqi. Und da hatte ich wie gesagt den Eindruck, dass Moscheen deutlichen Zulauf haben und dass auch gerade jüngere Leute, Studierende, dort mehr Rückhalt und Orientierung suchen. Und eben die Gemeinschaft.
Gemeinschaft, Spiritualität – das sind ja Dinge, die längst nicht nur der Islam bietet. Ist damit nicht jede Art von Religiosität verdächtig für China?
Shi-Kupfer: Unter dem jetzigen Parteivorsitzenden sind die Religionen grundsätzlich mehr ins Fadenkreuz geraten. Vor allem die so genannten ausländischen Religionen, das sind für China der Islam und das Christentum. Da spielt in der Tat ganz besonders der Faktor Verbindung ins Ausland eine große Rolle. Aber eben auch der Aspekt, dass es Gemeinden und Gemeinschaften gibt, die es so im Buddhismus und Daoismus nicht gibt. Die indigenen Religionen, so nennt China das, sind ja eher stark darauf angelegt, entweder in einer Klostergemeinschaft zu leben – aber dann ist man ja komplett raus aus dem Leben – oder sich individuell zu kultivieren. Während das Christentum und der Islam ja auch innerhalb dieser Welt eben diese Gemeinschaftsstrukturen anbieten. Und ich glaube das ist vor allem etwas, was Peking ein Dorn im Auge ist.
Inwieweit können die Uiguren ihre Religion aktuell noch ausleben?
Shi-Kupfer: Die Religionsausübung ist in Xinjiang offiziell nach wie vor erlaubt. Aber sie wird zunehmend skeptischer beäugt. Natürlich kann man, wenn man über 18 Jahre alt und kein Parteimitglied ist, nach wie vor sein Gebet verrichten. Aber schon beim Ramadan haben wir in den letzten Jahren gemerkt, dass es dort Einschränkungen gibt, dass man Leute zum Essen zwingt oder auch sich die Bärte abzurasieren etc.
Warum verbietet die chinesische Regierung die Religionsausübung nicht einfach ganz?
Shi-Kupfer: Ich glaube, dass ist eine gewisse Fassade, an die sich die Regierung offensichtlich nicht herantraut. Und natürlich ist es auch eine Möglichkeit, Menschen zu kontrollieren. Ich gehe stark davon aus, dass Moscheen unterwanderter werden, dass man Leute einschleust, um Leute zu überwachen, Netzwerke aufzudecken usw. Von daher ist es für Peking offensichtlich immerhin auch noch ein Ort, den man nutzt um eben Menschen zu identifizieren oder auch möglicherweise Netzwerke und Pläne, die Menschen haben, dadurch aufdecken zu können.
Was ist Pekings Ziel bei all dem?
Shi-Kupfer: Das Ziel der chinesischen Regierung ist es in der Tat, eine ganze Volksgruppe zu brechen. Sie ist unter Generalverdacht gestellt worden und es geht jetzt in der Tat darum, sie einer kulturellen Identität zu berauben. Und auch die Kinder, die nächste Generation, zu Han-Chinesen zu machen. Also die komplette Identität als Volksgruppe in der Tat zu brechen und durch eine Han-chinesische zu ersetzen, die loyal gegenüber der Partei ist.
Die "China Cables" haben zuletzt bewiesen, wie ernst es der chinesischen Regierung damit ist. Warum erhält der Konflikt in Deutschland dennoch relativ wenig Aufmerksamkeit?
Shi-Kupfer: In der Tat spielt da sicherlich der Islam eine Rolle. Also ein gewisses Unwohlsein, das man in unseren Gesellschaften empfindet gegenüber Menschen dieser Religionszugehörigkeit. Und den Uiguren fehlt auch - anders als den Tibetern - zum Beispiel ein internationaler Fürsprecher. Sie haben nicht so eine Sympathiefigur wie den Dalai-Lama. Die Uiguren haben eigentlich nichts Vergleichbares.
Das Interview führte Luise Sammann.
© Qantara.de 2020
Die Sinologin Kristin Shi-Kupfer leitet den Forschungsbereich Politik, Gesellschaft und Medien am Berliner Mercator Institute for China Studies.