"Das schafft Parallelgesellschaften"
Eine aus Marokko stammende deutsche Klägerin wollte sich vor Ablauf der einjährigen Wartefrist scheiden lassen, weil sie von ihrem marokkanischen Ehemann geschlagen wurde. Die Richterin am Frankfurter Amtsgericht hatte entschieden, das im Koran vorgesehene Züchtigungsrechts des Mannes stelle keine unzumutbare Härte dar. Es sei im marokkanischen Kulturkreis "nicht unüblich". Wie beurteilen Sie diese Aussage?
Lale Akgün: Das ist wirklich hanebüchen. Erstens leben wir in einem Rechtsstaat, das heißt: gleiches Recht für alle. Eine Richterin kann nicht nach Vorlieben oder nach von ihr angenommenen kulturellen und religiösen Unterschieden urteilen. In unserem Land ist Körperverletzung strafbar, ganz gleich, ob sie von einem muslimischen, christlichen oder atheistischen Mann durchgeführt wird.
Ihre Aussage ist auch deswegen so schlimm, weil sie damit den Weg in Parallelgesellschaften öffnet. Wir haben immer angemahnt, dass es gefährlich ist, wenn auf irgendwelchen Hinterhöfen Imame Menschen nach islamischem Recht verheiraten oder scheiden wollen. Das ist der Beginn der Parallelgesellschaft, denn die beginnt, wenn es parallele Rechtssysteme gibt. So etwas dürfen wir nicht dulden.
Und jetzt geht eine Richterin des Staates hin und vollzieht im Grunde auch eine Parallelgesellschaft, indem sie zwei unterschiedliche Rechtssysteme entwickeln will und konterkariert damit eigentlich alles, was in der Integration wichtig ist.
Drittens öffnet sie Tür und Tor für alle möglichen Vorurteile: Sowohl aus der Sicht von rechten Deutschen, die sich bestätigt fühlen und sagen: 'Wir wussten es doch immer: Die muslimischen Männer sind Schläger'.
Sie bestärkt aber auch Vorurteile bei muslimischen Männern, die sich ihrerseits bestätigt fühlen: Denn wenn selbst eine deutsche Richterin Gewalt rechtfertigt, kann man seine Frau auch schlagen. Es gibt so viele Aspekte, die man kritisieren kann, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll.
Wie kann diese Richterin überhaupt solche Begründungen anführen? Muss auf politischer oder gesetzlicher Ebene etwas geändert werden?
Akgün: Unser Gesetz ist so, dass Grundzüge festgehalten sind, auf deren Grundlage Richter und Richterinnen ihre Entscheidungen treffen. Da muss man überhaupt kein Gesetz modifizieren, im Gegenteil: Die Richterin hat ihrerseits versucht, das Gesetz zu modifizieren.
Was steht denn wirklich im Koran in punkto Gewalt gegen Frauen?
Akgün: Gestern hat eine muslimische Frauenvereinigung geschrieben: Koranausdeutungen sollte man Theologen überlassen, die historische Zusammenhänge, Symbolcharakter und geschichtliche Eigenarten in ihrer Gesamtheit betrachten und dann Interpretationen liefern. So etwas sollten nicht Richterinnen mit ihren laienhaften Kenntnissen versuchen - das war eine gute Erklärung.
Es geht ja nicht darum, was im Koran wörtlich steht, sondern darum, wer ihn interpretiert und wie. Und ich glaube, dass inzwischen Einigkeit herrscht, nicht nur bei den liberalen Muslimen, sondern auch bei den orthodoxen, dass viele Suren des Korans nur aus der historischen Perspektive zu interpretieren sind und für unsere heutige Zeit keine Gültigkeit mehr haben.
Die Feministin Alice Schwarzer hat kritisiert, es habe in den vergangenen Jahren zahlreiche Urteile gegeben, bei denen gegen die Täter im Namen anderer Sitten milder geurteilt wurde oder die sogar freigesprochen worden seien. Glauben Sie, wie Frau Schwarzer, dass das "geltende Rechtssystem von islamistischen Kräften unterwandert" wird?
Akgün: Die Muslime können nichts dafür, dass eine deutsche Richterin meint, sich solche Extravaganzen zu leisten, vielleicht fand sie das besonders toll. Aber weil eine Richterin sich so benommen hat und damit zu Recht eine Welle der Empörung in der Gesellschaft ausgelöst hat, kann man jetzt nicht behaupten, Deutschland werde von Islamisten unterwandert.
Das Interview führte Ina Rottscheidt
© DW-WORLD.DE 2007
Lale Akgün ist Bundestagsabgeordnete und Islam-Beauftragte der SPD.